Mit ein paar Federstrichen die Welt erreichen: Eine Geschichte europäischer Schriften
Die Macht der Schrift: Im Bruchteil einer Sekunde kann uns ein Schriftbild in eine bestimmte Zeit oder kulturelle Sphäre katapultieren und damit eine Botschaft nicht nur unterstreichen, sondern geradezu vorwegnehmen. Schrift ist jedoch nicht nur Transportmittel – sie zu kreieren, schneiden, digitalisieren und im richtigen Werk gezeichnet oder gedruckt einzusetzen ist selbst eine Kunst.
Von der Entwicklung dieser Kunst berichtet Walter Gfeller in seinem kürzlich erschienenen Band „Schriften, die Geschichte schrieben“. Er beginnt dabei in der Antike, springt aber recht schnell zu Gutenberg und konzentriert sich dann auf die im west- und südeuropäischen sowie deutschsprachigen Raum entwickelten und genutzten Schriften.
Der Sprung von handgeschriebenen Hieroglyphen, Skripten und Vervielfältigungen zur Erfindung des Buchdrucks war immens. Doch er setzte weiterhin ein künstlerisches Auge und handwerkliches Geschick voraus. Worin dies besteht, was die Eleganz, Schwungkraft, die Text-Lesbarkeit oder Eignung als Auszeichnungsschrift verschiedenster Schriften ausmacht, beschreibt Gfeller ausführlich anhand Hunderter Beispiele in einem Anhang, der zusammen mit einer kommentierten Bibliographie fast 600 der insgesamt 750 Buchseiten umfasst. Zugleich wartet er mit einer Menge an Informationen und Geschichte(n) über die Künstler, Schriftschneider, Setzer und Drucker auf, die zur Vielfalt der heute verfügbaren Schriften und Fonts beigetragen haben. Denn Kunst findet sich nun ebenfalls im digitalen Raum, auch in der gekonnten Digitalisierung vorhandener Schriften und Schöpfung modernisierter Formen. Gfeller gelingt mit seiner Sammlung ein Überblick, der sowohl breit als auch tief zu schürfen sucht und Lust darauf macht, weiter zu schauen.
Doch mit der Fülle nutzbarer Designs wiegt umso schwerer die Frage nach dem Content. Denn was Gfeller aus Johan Huizingas Buch „Erasmus“ über den Wechsel zum Buchdruck zitiert, ist im Zeitalter von Social Media höchst aktuell: „Das Bewusstsein, man könne mit seinem Wort sofort die ganze Welt erreichen, ist ein Reiz, der unbewusst die Art der Äußerung beeinflusst […]“. Egal, in welchen Lettern oder Fonts sie erscheint.
Inmitten der Menge an Gestaltungsmerkmalen, Zeichnungen und Lebensläufen scheint dieser große Zusammenhang von Inhalt, Rahmen und Schriftgestalt etwas aus dem Blick zu geraten. An seinen Schriftmustern legt Gfeller ihn zwar mit Blick auf konkrete Verwendungen immer wieder detailreich dar. Doch was haben einzelne Schriften geschichtlich bewirkt, wie wurden sie wahrgenommen, verwendet, (miss-)verstanden und eingeordnet? Diese Fragen, evoziert durch den Titel, bleiben unbeantwortet, und jenseits weniger Anekdoten wird der Bogen von der Schrift zur Geschichte kaum geschlagen. Dabei ist das Geschehen um den „Antiqua-Pionier“ Augereau überaus interessant, der mit 200 Druckern, Verlegern und Buchhändlern 1534 wegen einer Plakataktion (mit der er nichts zu tun hatte) verhaftet wurde und dann einem Justizmord zum Opfer fiel. Von der Macht der reinen Verbreitung des Wortes und der Furcht davor ließe sich in einer Geschichte der Schriftentwicklung sicher mehr erzählen.
Und auch davon, warum die Fraktur, für die offenbar das Herz des Verfassers schlägt, so ambivalente Gefühle auslöst und seit dem 2. Weltkrieg nur noch wenig gefragt ist. Zu wenig praktikabel? Schwer lesbar? Oder geschichtlich verbrannt? Man hat den Eindruck, dass der Autor seine persönliche Sicht und speziell sein Bedauern über das Verschwinden der gebrochenen Schriften vor allem durch die Schriftmuster-, d.h. die Textauswahl im Anhang wiedergibt und so Dritte für sich sprechen lässt. Leider fehlt es dabei an der Einordnung; nur sehr punktuell finden sich Hinweise auf das Verwerfen und dann wieder den expliziten Gebrauch von Fraktur und Schwabacher durch den NS. Gerade letzteres aber bestimmt die heutige Wahrnehmung qua Assoziation und ist womöglich relevanter für Nutzungsentscheidungen als die im Anhang abgebildeten (und im Text nur typographisch kommentierten) Argumente der besseren europäischen Geläufigkeit der Antiqua. (Die etliche Beispiele französischer u.a. Texte in gebrochenen Schriften auch etwas entkräften.) Hier wäre eine historische Einordnung jenseits der rein gestalterischen Aspekte nützlich gewesen. Zumal sich auch Zitate von Rudolf Koch unter den Beispielen finden, die in puncto deutsch-nationalistischer Selbstüberhöhung recht deutlich sind. Aus der Schweizer Sicht des Autors mag das weniger gewichtig und die Abwendung von den gebrochenen Schriften eher technisch motiviert erscheinen. Für ein v.a. auch in Deutschland vertriebenes Buch, das immerhin sich deutscher statt Schweizer Rechtschreibung (Nutzung von ß) bedient, das zumal darauf rekurriert, wie „Schriften […] Geschichte schrieben“, wäre ein genauerer Blick auf diesen zentralen Aspekt wünschenswert gewesen. So ist es doch eher eine „Geschichte der Schriften“.
Um die Menge des Materials auch gestalterisch zu bändigen, hat sich Gfeller eigene typographische Entscheidungen getroffen. Die sorgfältige Verwendung inhaltlich korrespondierender Schrifttypen für bestimme Absätze und das Einfügen hervorgehobener Lettern im Text verdient große Bewunderung. Gerade in einem Band über Schriftgestaltung wünschte man sich jedoch Konsistenz auch optisch im Satzbild, den Überschriftenkategorien und der Gesamtgestaltung – kurz: entsprechende Unterstützung durch den Verlag.
Trotz dieser offenen Wünsche ist das Buch eine anspruchsvolle Lektüre – oder genauer ein Werk zum Nachschlagen, vielleicht sogar Nachzeichnen – für Fachleute und all diejenigen, die Freude an der Vielfalt von Schriften und ihrer Gestaltung haben.
Untertitel: Von der Trajanssäule bis zur Plakatsäule
Autor(en): Walter Gfeller
veröffentlicht: 2023
Verlag: Neptun Verlag
Sprache: deutsch
Seiten: 750
ISBN: 9783858203298
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