Bei FDI Type ist die Wayfinding Sans Pro erschienen – eine Schrift, die in einem aufwendigen Gestaltungsprozess speziell auf die besonderen Bedürfnisse von Leit- und Orientierungssystemen zugeschnitten wurde. In diesem Artikel erklärt Schriftgestalter Ralf Herrmann wie die Schrift entstand.
Alles begann mit einer Tour auf der legendären Route 66 im Jahr 2006. Über mehrere tausend Kilometer schaute ich Tag für Tag auf die amerikanischen Verkehrsschilder und inspizierte natürlich insbesondere ihr Design und ihre Typografie.
Dies ist in den USA gerade deshalb besonders interessant, da hier gerade ein Wechsel der benutzen Schriftarten vonstatten geht. Die alten, etwas skurrilen FHWA-Schriften aus der Mitte des 20. Jahrhunderts werden zunehmend von den modernen Clearview-Schriften abgelöst. Doch nicht immer kamen mir die neuen Schilder tatsächlich leserlicher vor. Und dies konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich erklären – schließlich sind die Clearview-Schriften doch aus typografischer Sicht eigentlich deutlich besser und homogener ausgestaltet.
Und so keimte in mir die Frage auf, welche Parameter denn nur wirklich im speziellen Kontext von Beschilderungen für eine optimale Leserlichkeit sorgen. Natürlich hat jeder professionelle Gestalter gewisse Vorstellungen, wie Schriften für Beschilderungen aussehen oder nicht aussehen dürfen. Doch handfeste, nachprüfbare Einschätzungen zu den Parametern der Leserlichkeit und ihrer Interaktion miteinander schien es nicht zu geben.
Zurück in Europa begann ich meine Untersuchungen, indem ich mir zunächst die Schriften auf den europäischen Verkehrsschildern näher betrachtete. Und dies nicht durch das Studium von Spezifikation und Fotos, sondern ich wollte die Leitsysteme tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes persönlich »erfahren«, um ihre Vor- und Nachteile in der Praxis erleben zu können.
Abbildung oben: Querschnitt europäischer Verkehrswegweiser. Die Unterschiede in Design und Schriftanwendung könnten kaum größer sein.
Dabei tat sich ein spannendes Forschungsfeld auf. Denn es ist schon erstaunlich: Gerade weil Leitsysteme (z.B. in der Gestalt von Verkehrszeichen) so allgegenwärtig sind, nehmen sie kaum noch bewusst war. Wir lesen ihre Inhalte, aber ihre Gestaltung ist so vertraut und gewöhnlich, dass wir uns kaum vorstellen können, dass sie irgendwie anders aussehen könnte. Doch schaut man sich z.B. die Gestaltung der Verkehrszeichen in verschiedenen europäischen Ländern an, zeigen sich sofort deutliche Unterschiede, die sich natürlich auch in der Effektivität und Leserlichkeit der Schilder niederschlagen.
Denn auch trotz der Normierungsbestrebungen innerhalb Europas: Die Gestaltung von Verkehrsleitsystemen ist nach wie vor Ländersache und auch die Schriftwahl könnte dabei kaum unterschiedlicher ausfallen. Da gibt es weit laufende geometrische Schriften wie in Polen und Schweden, auf Rastern basierende Schriften wie die Schweizer SNV oder die DIN 1451, und im Zuge der Digitalisierung der Schilderproduktion nun auch vermehrt Druck- oder gar Systemschriften wie Helvetica und Arial.
Und auch über die konkreten Parameter wie etwa die richtige Strichstärke herrscht Unklarheit. So wird die eigens von Jock Kinneir and Margaret Calvert für die britischen Verkehrsschilder entwickelte »Transport« in Großbritannien in Medium und Bold eingesetzt, die Adaptionen in Spanien und Italien jedoch in einer Black-Version, die zu verschwindend kleinen Punzen führt.
Abbildung oben: Beispiele aus den Gestaltungsrichtlinien verschiedener europäischer Länder. Weitere Bilder in meinem umfassenden Flickr-Set World of Traffic Signs
Nach dem Studium alle gängigen Beschilderungsschriften im Einsatzbereich der lateinischen Schrift musste ich jedoch feststellen, dass es die perfekte Schrift für diesen Zweck noch nicht gibt. Dies liegt sicherlich auch daran, dass der regionale Einsatz nicht selten eine regional fokussierte Gestaltung nach sich zieht. So zeichnet sich etwa die britische Transport durchaus durch eine hervorragende Leserlichkeit aus – doch sie ist eben für die kurzen englischen Wörter gemacht. Bei langen deutschen Ortsnamen würde sie versagen. Auch die oft gelobte Clearview ist mit ihrer extremen x-Höhe speziell für den Einsatz auf amerikanischen Verkehrsschildern ausgelegt und verträgt sich nicht mit Sprachen mit diakritischen Zeichen. Schon die Einführung im französischsprachigen Teil von Kanada führte deshalb zu Problemen.
So entstand die Idee für die Wayfinding Sans Pro – eine umfassende Schriftfamilie, die universell für Beschilderungen einsetzbar sein könnte.
Der Gestaltungsprozess unterschied sich dabei fundamental von der typischen Entwicklung von Druckschriften. Ein Schriftgestalter skizziert in der Regel zunächst die Umrisslinien seiner Buchstaben. Die Betonung liegt hier also auf Stil und Anmutung der Buchstaben. Doch gerade diese Details gehen beim Lesen von Schrift auf größere Entfernung als allererstes verloren. Die Lesbarkeit definiert sich hier vor allem über das Skelett der Buchstaben. Und deshalb wurden diesem bei der Entwicklung der Wayfinding Sans Pro eine besondere Bedeutung zugemessen. Die Schrift entstand daher zunächst als reine Skelett-Zeichnung, der dann am Computer eine variable Strichstärke zugewiesen werden konnte. Auf diese Weise konnte auch das kritische Zusammenspiel zwischen Skelett und Strichstärke perfekt ausgelotet werden.
Doch ich stieß auf ein weiteres Problem: Der entscheidende Punkt beim Lesen von Beschilderungen unter kritischen Sichtbedingungen ist genau jener, wo die Schrift gerade eben lesbar wird. Hier kann man durch den Schriftentwurf eine Verbesserung herbeiführen und die Informationen gegebenenfalls noch etwas früher lesbar erscheinen lassen.
Doch wie soll man eine Schrift für eine Lesesituation entwerfen, die man während des Gestaltens gar nicht direkt sehen kann? Bildschirmschriften beurteilt man am Bildschirm; Druckschriften druckt man aus. Doch Schriften für Beschilderungen kann man während des Gestaltungsprozesses nicht fortlaufend und für jede kleine Designentscheidung auf Schilder montieren und empirisch testen lassen. So entstand die Idee für das Legibility Test Tool. Eine Echtzeit-Computersimulation, die mir während des Gestaltens am Computer erschwerte Sichtbedingungen direkt simulieren konnte. Tests dieser Art sind zwar nichts grundsätzlich neues, doch in der Regel werden sie eingesetzt, um fertige Schriftentwürfe als ganzes miteinander zu vergleichen. Dabei erhält man zwar als Ergebnis, welche Schrift leserlicher ist, aber man erfährt nicht wirklich, auf welche konkreten Designparameter dieses Ergebnis zurückgeht.
Indem ich diese Simulation jedoch direkt in den Gestaltungsprozess eingebunden habe, konnte ich tatsächlich jede noch so kleine Designentscheidung auf ihre Tauglichkeit bezüglich optimaler Lesbarkeit hin überprüfen und optimieren. Und die Ergebnisse waren nicht selten überraschend! Gestaltungsprinzipien, die in Druckschriften üblich sind, erfordert im Kontext von Beschilderungen nicht selten eine andere Herangehensweise. Deshalb war es mir auch wichtig, beim Gestalten nicht von bestehenden Schriften (wie Frutiger, DIN 1451, Clearview etc.) auszugehen, sondern die Schrift von Grund auf zu entwickeln und jedes noch so kleine Detail zu hinterfragen und zu testen.
Hier eine kleine Auswahl der wesentlichen Gestaltungsprinzipien und Merkmale der Wayfinding Sans Pro:
Generisch und doch individuell. Wir lesen am besten, was wir am meisten lesen. Eine Schrift ist besonders gut leserlich, wenn sie vertraute Buchstabenskelette benutzt. Jedoch sollte der Charakter der einzelnen Buchstaben auch betont sein, um Unterscheidbarkeitsprobleme zu vermeiden. So verfügt die Wayfinding Sans natürlich über ein zweistöckiges a, aber auch im Gegensatz zu den meisten anderen Beschilderungsschriften über dreistöckiges g – den nur diese Form macht den Buchstaben tatsächlich auch unter schwierigen Sichtbedingungen unverwechselbar.
Maximale Unterscheidbarkeit. Beim Lesen unter schwierigen Sichtbedingungen ist die Unterscheidbarkeit von Buchstaben ein wesentlicher Faktor. Typische Buchstabenpaare, die gern verwechselt werden können, wurden deshalb in der Wayfinding Sans Pro deutlich unterschiedlich ausgestaltet. Dadurch kann die Schrift im Vergleich zu anderen deutlich früher gelesen werden.
Weite Formen. Der Platz auf Schildern ist oft begrenzt. Bieten sich daher eher schmal laufende Schriften an? Ganz im Gegenteil! Schmale Schriften sind der Leserlichkeit abträglich, da der eindeutige Buchstabencharakter mit der Verschmälerung zunehmend verloren geht. Die Wayfinding Sans Pro läuft in der Standardversion eher breit erzeugt so eindeutige Buchstabenbilder mit bewusst unterschiedlichen Breiten. Natürlich verfügt die Schrift aber auch über schmaler laufende Versionen, wenn es der zur Verfügung stehende Platz unbedingt erfordert.
Optimierte Strichstärke. Wie meine Leserlichkeitssimulationen zeigten, ist die Strichstärke neben dem Buchstabenskelett ein wesentlicher Faktor für optimale Leserlichkeit auf Schildern. Viel hilft viel ist jedoch nicht die Lösung. Zwar ist ein breiter Strich auf größere Entfernung besser sichtbar als ein schmaler Strich, jedoch führt beim Einsatz in Buchstabenformen eine zu große Strichstärke natürlich dazu, dass die Details zulaufen und der Buchstabe nicht mehr klar erkennbar ist. Diese Problem hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten sogar noch deutlich verschärft, da Schilder immer häufiger hinterleuchtet bzw. retroreflektierend gefertigt werden. Dadurch tritt ein Überstrahlungseffekt auf, dem nur mit einer kleineren Strichstärke und offeneren Buchstabenformen entgegengewirkt werden kann. Die Strichstärke der Wayfinding Sans Pro in den jeweiligen fetten Versionen ist speziell auf die Anwendung auf Schildern aller Art abgestimmt.
Und für jede Variante existiert zudem eine eigene Strichstärke für positiven und negativen Kontrast, sodass auch Kombinationen von heller Schrift auf dunklem Grund und dunkler Schrift auf hellem Grund auf einem Schild problemlos möglich sind.
Betonte diakritische Zeichen. Ebenfalls ein überraschendes Ergebnis aus den Leserlichkeitssimulationen war die Erkenntnis, wie schnell freistehende Buchstabeteile wie Umlautpunkte etc. beim Lesen auf große Entfernung unlesbar werden oder schlicht ganz unsichtbar werden. Diese Elemente sind deshalb in der Wayfinding Sans Pro besonders betont.
Optimierte Ziffern. In Druckschriften sind Ziffern so gestaltet, dass sie sich möglichst harmonisch in den normalen Fließtexte einfügen. Bei Beschilderungen muss der Fokus jedoch auf gut erkennbaren und unverwechselbaren Ziffernformen liegen. Entsprechend eines typischen Einsatzes bei Beschilderungen verfügt die Wayfinding Sans Pro standardmäßig über tabellarische Versalziffern. Mediävalziffern und proportionale Varianten sind aber ebenfalls enthalten.
Pfeile. Ein Leitsystem ohne Pfeile ist kaum denkbar. Werden diese jedoch als Einzelgrafiken in ein Beschilderungslayout montiert, wird die Positionierung und Ausrichtung zum Geduldsspiel. Wayfinding Sans Pro macht den Umgang mit Pfeilen zum Kinderspiel. Die Pfeile passen immer perfekt zum umgebenden Text und lassen sich auch direkt mit ihm eingeben. Dazu muss lediglich ein Stylistic Set aktiviert werden und die Pfeile lassen sich über leicht zu merkende Codes eingeben. --n erzeugt z.B. einen Pfeil nach oben (Norden). Fügt man ein w hinzu wird daraus ein Pfeil nach linksoben (Nord-Westen).
Wenn ich das Projekt in Vorträgen vorgestellt habe, kam nicht selten die Nachfrage nach wissenschaftlichen Belegen für die gute Leserlichkeit meiner Schrift. Für mich als Gestalter stellte sich diese Frage gar nicht unbedingt. Es war mir sehr wichtig, dass die Gestaltung auf einem handfesten theoretischen Fundament aufgebaut war und durch die Arbeit mit meinem Legibility Test Tool habe ich auch den Gestaltungsprozess auf solide Füße gestellt und von jeglicher gestalterischer Willkür befreit. Ich wusste also, dass ich in die richtige Richtung arbeitete – Beweise brauchte ich persönlich also nicht. Nichtsdestotrotz ergab es sich, dass vor kurzem eine Leserlichkeitsstudie an der HTW Berlin durchgeführt wurde und ich wurde gebeten, meine Schrift dafür zur Verfügung zu stellen. Die Ergebnisse übertrafen sogar meine Erwartungen: »Im Test konnte die Schrift [Wayfinding Sans Pro bold extended] im Vergleich zu allen anderen Schriften in allen Größen früher gelesen werden«. Sie übertrumpfte sogar die getesteten Schnitte der etablierten Beschilderungsschriften der Frutiger, DIN 1451 und Johnston Underground deutlich – und dies in allen Testszenarien.
Sechs Jahre nach der erstmaligen Beschäftigung mit diesem Thema ist die Wayfinding Sans Pro, die zusammen mit Sebastian Nagel ausgebaut wurde, nun endlich fertig und kann über FDI Type in insgesamt 20 Schnitten lizenziert werden. Natürlich ist die Schrift nicht allein auf Verkehrszeichen ausgelegt, sondern eignet sich für alle Arten von Beschilderungen. Die Benennung der Schriftschnitte orientiert sich an jener von typischen Druckschriften, jedoch ist die Bold Extended tatsächlich der empfohlene Grundschnitt für Beschilderungen. Dieser Schnitt bietet die optimale Leserlichkeit auch auf große Entfernung. Entsprechend bauen die erhältlichen Pakete auf dieser Version auf. Für einfache Beschilderungssysteme stehen jeweils die Pakete mit der Bezeichnung A zur Verfügung. Wenn auf den Schildern jedoch positiver und negativer Kontrast kombiniert werden soll, stehen dafür die Pakete mit der Bezeichnung B zur Verfügung und das »N« im Namen des Schriftschnittes deutet auf die Verwendung im negativen Kontrast hin.