Um einen handschriftlichen Text von Goethe oder Schiller (siehe oben) zu lesen bedarf es einiger Übung. Sie schrieben – wie ihre Zeitgenossen auch – zumeist in Kurrentschrift. Manch einer mag diese Schrift noch von den Großeltern kennen. Die Kurrentschrift war vom Ende des Mittelalters bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine gängige Schreibschrift in deutschsprachigen Ländern. Man kann sie die geschriebene Tochter der Fraktur nennen.
Im Gegensatz zu Ländern wie Italien oder Holland, wo die Humanisten der Renaissance die lateinische Schrift populär machten, konnte diese im deutschsprachigen Raum die Kurrent lange Zeit nicht verdrängen. Zwar wurden lateinische Texte oft mit lateinischen Buchstaben verfasst, aber im Alltag wurde meist »gotisch« geschrieben. Ausgehend von der gotischen Kursive des Mittelalters haben Schreibmeister ab etwa 1450 die Formen der deutschen Kurrentschrift entwickelt. Indem sie die einzelnen Buchstaben durch lange Anstriche miteinander verbanden, wurde sie zügiger und leichter zu schreiben. Gleichzeitig konnten die Schreiber es jedoch nicht unterlassen, mit dekorativen Übertreibungen ihre Fähigkeiten zur Schau zu stellen. Mehrere Schriftreformen steuerten dagegen. Die letzte dieser Reformen fand Anfang des 20. Jahrhunderts statt, als Ludwig Sütterlin seine Version einer Laufschrift entwickelte, die fortan einfach Sütterlin genannt wurde. Sie wurde aufrecht geschrieben, war breiter, und verzichtet auf den Strichstärkenkontrast von feinen und fetten Strichen. Die Sütterlin wurde schließlich die Standardsschrift in deutschen Schulen – bis zum Normschrifterlass.
Vergleich von Kurrent und lateinischer Schreibschrift aus einem österreichischen Schriftvorlagen-Heft
Merkmale
Heute ist die Kurrentschrift für viele nahezu unlesbar, denn ihre Buchstaben unterscheiden sich zum Teil stark von der lateinischen Schreibschrift. Auffallend sind die geraden Striche und sehr spitze Winkel in vielen Kleinbuchstaben, die der Schrift auch den Namen »Spitzschrift« einbrachten (Im Gegensatz zur »runden« lateinischen Schrift).
Alphabet der Deutschkurrent von Georg Salden
Die Kleinbuchstaben a, b, f, g, i, l, m, n, o, q und t sehen kaum anders aus als die lateinischen. Das gotische h hatte rechts eine Unterlänge, die im Kurrent-h verschliffen und gebunden wurde. Das e, man kann es für ein schmales n halten, hat sich in Stufen aus dem e der humanistischen Kursiven entwickelt. Es wurde nämlich nicht nach heutiger Schreibweise in einem, sondern in zwei Zügen geschrieben.
Die Kurrent vermeidet die sogenannten Deckstriche unserer heutigen Schulschriften. Das ist das Hin- und Zurückschreiben auf derselben Spur. Sie macht daraus nebeneinander geschriebene, gerade Striche (siehe r), oder bei den Großbuchstaben Kurven nach oben (siehe R). Diese Großbuchstaben sind zum Teil vergrößerte Kleinbuchstaben (A, D, G, O, Q, S, T, U, V, W, Y und Z) oder folgen den Lateinformen (B, E, F, H, I, J, L, P, R). Nur M und N, V und W gehen auf unziale Vorbilder zurück, wobei die Formen der V und W auch für die Kleinbuchstaben Modell standen. D und d scheinen unzial/griechische Vorbilder zu haben.
Das u ist mit einem darüber liegenden Haken ausgestattet, um es vom n zu unterscheiden. Wie in den gedruckten gebrochenen Schriften, kamen auch bei der Kurrent zwei s-Formen (Å¿/s) zum Einsatz. Die Umlaute ä, ö, ü wurden anfangs ae, oe, ue, später mit einem kleinen, darüberliegenden e geschrieben. Dieses e wurde dann zu zwei Strichen vereinfacht – der Ursprung unserer Umlaute.
Die Deutschkurrent
Schriftgestalter Georg Salden hat nun eine Kurrentschrift als professionellen OpenType-Font herausgebracht. Salden begann selbst im Alter von 5 Jahren Sütterlin zu schreiben. Später studierte er an der Hochschule Originaltexte in deutscher Kurrentschrift. Als Vorlage für die digitale Schrift schrieb Salden zunächst mit Spitzfeder und Tinte. Darauf aufbauend zeichnete er eine Kurrentschrift, die besonders gut lesbar ist, weil sie alles Überflüssige und Dekorative vermeidet. Die Outline der Deutschkurrent hat zudem eine eher raue Anmutung, so dass der Eindruck von Handgeschriebenem entsteht.
Zeichenbelegung der Deutschkurrent
Neben einigen Ligaturen enthält die Schrift Deutschkurrent für die gängigsten Schriftzeichen ihre lateinischen Entsprechungen, die formal in den besonderen Charakter der Kurrent eingepasst wurden. So besteht die Möglichkeit, auch nicht-deutsche Texte zu schreiben oder einen Text auch für ungeübte Kurrentleser einigermaßen lesbar zu halten, ohne den unverwechselbaren optischen Eindruck der Schrift aufzugeben. Die alternativen Zeichen können mittels OpenType-Feature angesteuert werden.
Weitere Informationen gibt es auf einer eigenen Microsite sowie bei TypeManufactur. Die Schrift ist in zwei Ausbaustufen ab 70 Euro erhältlich.
(Artikel von Ludwig Übele, Ralf Herrmann)