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Die Entwicklung der Zeichenkodierung, Teil 1

Ralf Herrmann

Die digitale Welt spricht heute immer mehr Unicode – den Weltzeichenstandard, der jedes Sinn tragende Zeichen aller Sprachen dieser Welt erfasst und ihnen einen einzigartigen, unverwechselbaren Kode zuweist. Doch vom indianischen Rauchzeichen bis zum Unicode war es ein langer Weg. Typografie.info erzählt diese spannende Geschichte. 

Grundlagen der Kodierung und Übertragung von Zeichen

»Sehen Sie, der Telegraf ist eine Art sehr, sehr langer Katze. Man zieht in New York an ihrem Schwanz, und sie miaut in Los Angeles.« Albert Einstein

Der Mensch kann Informationen in erster Linie durch den Klang der gesprochenen Sprache oder schriftbildlich wahrnehmen und verstehen. Wenn Klang oder Schrift aber nicht direkt übertragbar sind, muss eine dem Signalweg angemessene Kodierung benutzt werden. Klopf- und Rauchzeichen sind altbekannte Vertreter solch einer Kodierung. Damit die so verschlüsselte Information verstanden werden kann, müssen Sender und Empfänger sich auf einen einheitlichen Schlüssel zum Kodieren und Dekodieren einigen – eine leicht nachvollziehbare Tatsache, doch bis heute eine der häufigsten Fehlerquellen bei der Arbeit mit Text am Rechner.

Bratpfannen und Ohrenschmerzen – Die Geburt der Telegrafie

Das erste funktionierende Signalsystem, das als direkter Vorläufer des Telegrafen bezeichnet werden kann, wird dem Franzosen Claude Chappe zugeschrieben. Er modifizierte Ende des 18. Jahrhunderts zwei Uhren so, dass deren Sekundenzeiger mit doppelter Geschwindigkeit über zehn Ziffern kreisten. Claude Chappe und sein Bruder René nahmen in einigen hundert Metern Entfernung Aufstellung. Die zuvor synchronisierten Uhren konnten nun zur Übertragung von Botschaften genutzt werden, indem Claude wartete, bis die zu übertragende Ziffer vom Sekundenzeiger überfahren wurde und zeitgleich auf eine Bratpfanne schlug. Boiinnng! René hörte den Ton und konnte an seiner Uhr die Ziffer ablesen. Ein nummeriertes Wörterbuch diente dabei als Kodebuch, um die übertragenen Ziffern wieder in Buchstaben, Wörter und Sätze zurückzuwandeln. Neben der Lärmbelästigung bestand allerdings das unumstößliche Problem, dass sich Sender und Empfänger immer in Hörweite zueinander befinden mussten. Je nach Windrichtung waren also kaum mehr als einige Hundert Meter Übertragungsweg möglich.

 

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Soweit das Auge reicht

Chappe erkannte, dass es wahrscheinlich sinnvoller wäre, statt eines hörbaren Signals ein sichtbares zu verwenden. An die Stelle der Pfannen traten also schwenkbare Holztafeln, die an einer Seite weiß, an der andern schwarz gestrichen waren. Während der Sekundenzeiger der Chappe-Uhren über eine bestimmte Ziffer strich, konnte diese durch Schwenken der Tafel übertragen werden. Nahm der Empfänger ein Teleskop zu Hilfe, waren schon beträchtliche Entfernungen möglich. Die Erfindung wurde Télégraphe (»Fernschreiber«) getauft. Chappe fand später eine Methode, ohne sychronisierte Uhren auszukommen. An einem Balken wurde ein drehbarer Querbalken angebracht, dessen Enden wiederum mit zwei Flügeln bestückt waren, die sich in 45-Grad-Schritten drehen ließen. So konnten über Seilzüge 98 mögliche Kombinationen eingestellt werden. Über Kodebücher konnte man 92 mal 92, also 8464 Wörter und Phrasen übermitteln. Wurden mehrere Türme in Sichtweite zueinander aufgestellt, in denen die Nachrichten der benachbarten Stationen weitergeleitet wurden, ließen sich beliebige Entfernungen überbrücken. Die französische Nationalversammlung erkannte das Potential der Erfindung, und im Mai 1794 nahm die erste Strecke des französischen Staatstelegrafen von Paris nach Lille ihren Dienst auf – vornehmlich zum Senden von militärischen Informationen. Der optische Telegraf wurde mit verschiedensten Patenten aus Balken oder Klappen auch in anderen Ländern schnell ein großer Erfolg. In den 30-er Jahren des 19. Jahrhunderts erstreckten sich bereits lange Reihen von Telegrafen-Türmen über einen großen Teil Westeuropas. Ein mechanisches Internet war geboren.

 

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Die Mönchskette

Der Betrieb der optischen Telegrafen war jedoch nicht nur teuer, sondern immer noch von Tageslicht und guten Sichtverhältnissen abhängig. Schon das Aufziehen von Nebel konnte die Nachrichtenübertragung vereiteln. Die Idee eines elektrischen Telegrafen spukte in den Köpfen vieler Erfinder und Tüftler herum, galt aber zur damaligen Zeit als utopisch. Denn vor Erfindung der Glühbirne durch Thomas Edison scheiterte man schon daran, wie überhaupt Strom in einer Leitung nachzuweisen ist, geschweige denn sichtbar gemacht werden kann. Ein besonders anschauliches Experiment zur Erkundung der Elektrizität veranstaltete der französische Wissenschaftler Abbé Jean-Antoine Nollet bereits im Jahr 1746. Er ließ in Paris etwa 200 Mönche eine Kette bilden, wobei jeder Mönch in beiden Händen einen 7,5 Meter langen Eisendraht hielt, der ihn mit seinem Nachbarn verband.
So ergab sich eine leitfähige Verbindung von über einer Meile. Nollet schickte nun ohne Vorwarnung Strom durch die »Mönchsleitung«, und der Elektroschock beutelte alle aufs Ärgste durch, wodurch die Eigenschaften des elektrischen Stroms anschaulich sichtbar wurden. Nollet machte damit die bedeutende Entdeckung, dass sich Strom offenbar über weite Entfernungen und ohne merklichen Zeitverlust übertragen lässt.

Lange Leitungen

1820 fand man in der Entdeckung des Elektromagnetismus eine schonendere Methode, elektrischen Strom sichtbar zu machen. Über einen Elektromagneten und den Ausschlag der rotierenden Nadel eines Galvanometers konnte der Stromfluss erstmals zuverlässig abgebildet werden. Mit solch einem Elektromagneten kam Samuel F. B. Morse der Legende nach im Jahr 1832 auf einer Heimreise mit dem Schiff von Europa nach Amerika in Berührung. Ein anderer Passagier, der einen Elektromagneten und allerlei andere elektrische Utensilien mit sich führte, erklärte, dass Strom eine Leitung beliebiger Länge ohne Zeitverzögerung passieren könne. Morse, seines Zeichens Maler von Beruf, war wie vom Blitz getroffen. »Wenn das Vorhandensein von Elektrizität in jedem beliebigen Teil des Stromkreises sichtbar gemacht werden kann«, sagte er angeblich, »sehe ich keinen Grund, warum Informationen nicht mittels Strom in jede Entfernung übertragen werden könnten, und zwar ohne Zeitverlust.« Noch während der Schiffsfahrt entwickelte Morse ein binäres System zur Kodierung der Nachrichten. Denn er erkannte schnell, dass über ein Stromsignal lediglich zwei Zustände (Strom fließt/Strom fließt nicht) übertragen werden konnten. Die mannigfaltigen Kodierungsformen der optischen Telegrafen waren also hier unbrauchbar. Morse entschied sich daher, kurze und lange Stromstöße zu verwenden, die wir noch heute in ihrer transkribierten Form als Punkte und Striche des nach ihm benannten Morse-Alphabets kennen.

Auch in England arbeitete man zeitgleich an elektrischen Telegrafen. Doch auf beiden Seiten des Atlantiks traten die gleichen Schwierigkeiten auf. Zum einen bereitete es größere Probleme als erwartet, den Strom tatsächlich über weite Entfernungen zu schicken, und zum anderen war es ebenso schwierig, Regierungen und Geschäftskunden von den Vorzügen des elektrischen Telegrafen gegenüber den bereits etablierten und funktionierenden optischen Telegrafen zu überzeugen. Die ersten Kunden waren zumeist Eisenbahngesellschaften, die elektrische Telegrafen-Leitungen neben ihre Gleisstrecken legten. Diese Leitungen verhalfen der Telegrafie erst dann zu viel öffentlichem Aufsehen, als sie immer wieder halfen, Diebe und Verbrecher zu fangen. Vor der Telegrafie konnten diese nämlich stets bequem und unbehelligt mit der Bahn flüchten, da die Nachricht über die Fahndung nie schneller sein konnte als die Bahn selbst. Doch nach einem simplen Telegramm, wie die telegrafischen Mitteilungen nun hießen, wurden die Flüchtigen nun schon von der Polizei am nächsten Bahnsteig erwartet.

 

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Abbildung: Englischer 5-Nadel-Telegraph. Diese System konnte durch Auslenkung zweier Nadeln direkt den übertragenen Buchstaben anzeigen. (hier: V)

Die Welt wurde verkabelt

In der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt sich das Telegrafennetz fast explosionsartig auszubreiten – vor allem in den Vereinigten Staaten, die nun durch eine transkontinentale Telegrafenleitung von der Ost- bis zur Westküste verbunden waren. Die allgemeine Skepsis weicht einer breiten Begeisterung über die neuen Möglichkeiten, und die Telegrafie wird zu einem alltäglichen Bestandteil im Geschäftsbereich und im Privatleben. 1865 wird nach mehreren missglückten Versuchen selbst der Atlantik mit einer unter Wasser verlegten, telegrafischen Leitung überwunden.

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Die Telegrafie wird rasch so erfolgreich, dass das Netzwerk unter der Last der Nachrichten zusammenzubrechen droht. Im Jahr 1875 beherbergte das zentrale Londoner Telegrafenamt bereits 450 telegrafische Instrumente auf drei Etagen, die durch 68 interne pneumatische Rohre miteinander verbunden waren, über die per Dampfbetrieb die Nachrichten weitergeleitet werden konnten.

Automatische Telegrafen

So schnell die Botschaft auch telegrafiert werden konnte, man benötigte zur Übertragung der Mitteilung immer noch Botenjungen, die von der nächstgelegenen Telegrafie-Zweigstelle die Nachricht zur Adresse des Empfängers brachten. Speziell für die immer schneller reagierende Börse und deren Händler bot es sich an, Preise automatisiert weitergeben zu können. 1867 wurde ein System entwickelt, bei dem Aktiennamen und deren aktuelle Preise in zwei Zeilen auf einen fortlaufenden Papierstreifen gedruckt werden konnten. Das Ausgabegerät bekam auf Grund seines Geräusches den noch heute bekannten Namen »Ticker« und wurde kurzzeitig zu einem Riesenerfolg. Doch nun machte man sich daran, nicht nur den Empfang zu automatisieren, sondern auch die Eingabe der Telegramme zu beschleunigen und zu vereinfachen – eine Arbeit, die bislang nur von erfahrenen Telegrafisten erledigt werden konnte. Der ABC-Telegraf von Charles Wheatstone hatte zwei Scheiben ähnlich eines Uhrziffernblattes, die mit den Buchstaben des Alphabets versehen waren. Eine Scheibe diente zum Ablesen eingehender Telegramme, die andere zum Senden. Durch Betätigung der Knöpfe neben den Buchstaben und Drehen einer Kurbel konnte das Telegramm ohne Kenntnis des Morse-Alphabets versandt werden. Das Läuten einer Glocke zeigte den Eingang eines neuen Telegrammes an.
[headline=3]Binärkodes[/headline]Das menschliche Gehirn ist der Lage, verschiedenste visuelle Repräsentationen eines Zeichens zuzuordnen. So bereitet es uns kaum Schwierigkeiten, alle diese doch sehr unterschiedlichen Varianten als den Buchstaben »A« zu identifizieren.

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Rechner können auf Betriebssystem-Ebene lediglich zwei Zustände unterscheiden, welche meist als »Null« und »Eins« bezeichnet werden. Man nennt dieses System auch ein Bit (von »binary digit«), die beiden Zustände Bitwerte. Um mehr als nur zwei Zustände wiedergeben zu können, werden mehrere Bits gruppiert. So ermöglichen zwei Bit vier Zustände (00, 01, 10 und 11), drei Bit schon acht (000, 001, 010, 011, 100, 101, 110, 111). Allgemein ausgedrückt lassen sich mit n Bit 2 hoch n Zustände darstellen.
Solch ein Zweizustandssystem ist jedoch schon wesentlich älter als die moderne Rechnentechnik. Bereits 1605 erfand Sir Francis Bacon im Alter von 17 Jahren den Kode »omnia per omnia« – eine zweiwertige Zeichenkodierung, die es ermöglichte, beliebige Botschaften über Texte, Töne oder Lichtsignale in verschlüsselter Form zu übertragen. Der Schlüssel, den Bacon zum Kodieren und Dekodieren verwendete, sah folgendermaßen aus:
 

  • A: aaaaa
  • B: aaaab
  • C: aaaba
  • D: aaabb
  • E: aabaa
  • F: aabab
  • G: aabba
  • H: aabbb
  • und so weiter

Wie man sieht, konnte Bacon auf diese Weise alle Zeichen des Alphabets mit einer 5-stelligen Folge von nur zwei Zuständen (hier a und b) eindeutig kodieren. Diese Tabelle, also die Zuordnung von Zeichen zu einem bestimmten Kode, nennt man Zeichenkodierung. Solange Sender und Empfänger den gleichen Zeichenkode als Schlüssel verwenden, kann die Nachricht korrekt übermittelt werden. Bacons Kode diente allerdings zunächst ausschließlich der Verschlüsselung von Geheimbotschaften, indem zum Beispiel die Zustände nicht direkt durch eine Abfolge von a und b, sondern durch den Wechsel zwischen Groß- und Kleinschrift in einen Text integriert wurden. Zur Übertragung von Informationen über weite Strecken wurde der Kode noch nicht verwendet. Dies geschah wie schon seit Jahrhunderten zuvor ausschließlich per berittener Boten.
Da Texte im Computer stets in solchen zweiwertigen Folgen, den Binärzahlen, gespeichert und übertragen werden, dient eine Zeichenkodierung am Rechner der Zuordnung der Zeichen zu einer korrespondierenden Binärzahl.

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Deshalb kann der Text nur bei Anwendung der richtigen Zeichenkodierung korrekt entschlüsselt werden. Eine andere Kodierung kann für die gleichen Binärkodes mit völlig anderen Zeichen hinterlegt sein.

Der Baudot-Kode

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1874 entwickelte Jean Maurice Emile Baudot von der französischen Telegrafenverwaltung eine neue Form des Telegrafen, die die Kapazität der Leitung noch einmal drastisch erhöhte. Über synchronisierte Verteilerarme an beiden Enden der Leitung konnte nun die Last von 12 Leitungen erreicht werden. Baudot setzte allerdings nicht den üblichen Morse-Kode ein, sondern einen Binärkode aus fünf Zeichen – nach dem gleichen Prinzip, wie ihn Sir Francis Bacon bereits für seine Verschlüsselung benutzt hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Baudot nun für jedes Zeichen eine Sequenz von fünf Stromimpulsen benutzte, die jeweils entweder positiv oder negativ sein konnten. Am Empfängerende wurde die Nachricht automatisch als Schriftzeichen auf einem Papierstreifen ausgegeben. Mit einer solchen 5-Bit-Sequenz ließen sich im später standardisierten »International Telegraph Alphabet« 32 Zustände (2⁵) übertragen, also gerade genug Platz für das Alphabet. Der ab 1930 standardisierte Kode zur Telegrafie ITA2 enthielt auch erstmals Steuerzeichen, mit denen Anweisungen an das Empfangsgerät gesendet werden konnten, zum Beispiel zum Läuten einer Glocke. Zudem konnte man über die Steuerzeichen auch zusätzliche Zeichen-Bereiche aktivieren – ähnlich der Anwendung der Shift-Taste an heutigen Rechner-Tastaturen.

In den nächsten Teilen der Serie:

  • ASCII – die Basis aller Computerzeichensätze
  • 8-Bit-Zeichenkodierungen – das Ringen um einen Standard
  • Unicode: der Weltzeichenkode
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