GRIOT Geschrieben Juni 8, 2006 Geschrieben Juni 8, 2006 Schon die Formulierung "Greueltaten der Nazis" ist falsch. Es waren die Greueltaten der Deutschen. Ich weiß, was Du damit meinst – schließlich läßt sich die Schuld damit so schön auf „die Anderen“ schieben, wenn man von den Nazis spricht und nicht von den Deutschen. Trotzdem ist diese Behauptung de facto falsch. Man denke z.B. an die Gewalttaten der baltischen Regimenter der Waffen-SS. Oder auch der rumänischen Regimenter in der Wehrmacht oder auch den Sub-Regimes in Frankreich u.a. „befreundeten“ Staaten. Aber das ist die rein geschichtliche Seite.
Bleisetzer Geschrieben Juni 8, 2006 Themen-Ersteller Geschrieben Juni 8, 2006 Du hast natürlich recht. Mir ging es nur darum, der alten Mär von der 2-Bäng-Theorie zu widersprechen. Kennst Du die? Die 2-Bäng-Theorie: 1933 machte es BÄNG und die Nazis landeten als Invasoren vom Mars. Genau bei uns in Deutschland. Und als erstes unterjochten sie uns Deutsche, danach den ganzen Kontinent. 1945 machte es dann noch einmal BÄNG. Und wir alle wurden befreit von den Nazis: Die Polen, die Russen, die Holländer und auch wir, die Deutschen. Die Nazis flogen zurück zum Mars. Und deshalb wurde seit 1945 nirgends in Deutschland mehr ein Nazi gesehen. So haben die heutigen Gutmenschen eine argumentative Brücke, um von der "Befreiung 1945" zu sprechen. Sie erheben Anspruch darauf, mitzufeiern, wenn die Alliierten in der Normandie oder in Moskau ihre Siegesfeiern abhalten. Und sie sprechen entrüstet von den Greueln, die "die Nazis" begangen haben. Ich sehe den Mechanismus, aber es widertrebt mir immens, den unwidersprochen zu lassen. Obwohl doch gerad ich.. der mit dem "leicht absonderlichen Bleisetzerei-Namen".. - man weiß es ja nicht, oder doch? "Ob der wohl vom Mars stammt?". Ne,nee.. laßt uns das Thema ruhig beim Namen nennen. Dann brauchen wir in Bezug auf "Nationalsozialismus und Schrift/Typographie" auch nicht nebulöse Worthülsen nutzen. Eins greift ins andere. Georg
Thierry Blancpain Geschrieben Juni 8, 2006 Geschrieben Juni 8, 2006 finde ich nicht unbedingt. schriftnamen und schriften selbst sind doch immer von ihrer zeit geprägt, und in der zwischenkriegszeit, vorallem natürlich ab 1932, waren "grossdeutsche" und nationalistische tendenzen und vorlieben natürlich verbreitet. den gestaltern, die ja oft erfüllungsgehilfen von marktwünschen sind, dabei eine nationalistische oder gar nazistische haltung zu unterstellen, finde ich dann doch ein bisschen übertrieben. und durch form und namensgebung dann auch noch gleich den schriften eine politische haltung zu unterstellen.. naja. (vielleicht mal abgesehen von der "Großdeutsch") von der helvetica behauptet ja auch niemand, dass sie eine nationalistische schrift sei. die wurde aus marketinggründen von neue haas grotesk in helvetica umbenannt. genau das gleiche würde ich bei den von dir genannten schriften auch erwarten.
Bleisetzer Geschrieben Juni 8, 2006 Themen-Ersteller Geschrieben Juni 8, 2006 Wie bereits erwähnt: Die Schlacht um Tannenberg fand Ende August 1914 statt. Es gelang dort, einen russischen Einmarsch nach Ostpreußen ins Reich zu verhindern. Diese Schlacht war maßgeblich. Nichts am Namen Tannenberg hat nationalsozialistischen Charakter, wirklich nichts. Ich lese gerade das aktuelle Geo Epoche, Thema: Französische Revolution. Wenn heute ein französischer Politiker an den Sturm auf die Bastille erinnert und die Glorie Frankreichs hervorhebt, unterstellt ihm niemand Nationalismus - und selbst wenn: Niemanden würde es stören. Wenn in Deutschland 1934 eine Schrift entworfen wird, die "Tannenberg" genannt wird, über deren relative Schönheit man streiten kann und die durch ihre Gestaltung eben aus damaliger Sicht das Monumentale des nationalen "Heiligtums" Tannenberg nachempfinden sollte, einer Schlacht, die 20 Jahre zuvor stattgefunden hat, dann echauvieren sich 72 Jahre danach bei uns die Typographen. Es ist erstaunlich. Georg
Poms Geschrieben Juni 8, 2006 Geschrieben Juni 8, 2006 Fragen Gibt es eigentlich ausländische Frakturschriften aus dem gleichen Zeitfenster, die formal ähnlich gestaltet? Habt ihr Beispiele? Ist die Entwicklung zu solcherlei vereinfachten Formen, keine aus der Sicht des damaligen Schriftgestalters heraus, logische Entwicklung *, die zu solchen oder ähnlichen Gestaltungsergebnissen führt/führen kann? Provokativ gefragt: Sind vereinfachte Formen, die den Formenkontrast steigern, Fette Schnitte die Kontrast steigern, politisch, nationalsozialitisch oder sind diese nicht eher plakativ, werberisch, Aufmerksamkeit erheischend und somit auch tauglich für Progagandazwecke? * Das durch die breite Akzeptanz der Groteskschriften in Deutschland, wie International, als Auszeichungsschriften in den Bereichen Werbung etc. die Schriftgestalter auch im Bereich Fraktur beeinflusst worden sind.
Bleisetzer Geschrieben Juni 8, 2006 Themen-Ersteller Geschrieben Juni 8, 2006 Ich bin in meiner Bewertung auch nicht ganz sicher. Mir scheint es ein Ausnahmefall zu sein mit diesen vereinfachten Gotischen. Die DDR z.B. hatte keine Schriften, die wir heute sofort mit sozialistischer oder kommunistischer Propaganda verbinden. Es gab ein bißchen "Reporter", die Pinselschreibschrift, und dann diverse Serifenlose auf den Bannern und Plakaten. Die Gestalter, die diese Schriften namens National und Tannenberg usw. entworfen haben, befanden sich sicherlich auch in dem Sog der Zeit, man glaubte 1934 an Aufbruch und Fortschritt, man konnte rasch Karriere machen, Bürokratie wurde abgebaut usw., die Schriften von Götz Aly geben uns ja in jüngerer Zeit neue Sichtweisen auf die modernen Züge des Dritten Reiches und wieviele Menschen davon profitierten. Also mit Gut und Böse läßt sich das Phänomen nicht greifen. Aber sind diese genannten Schriften nicht heute und für uns eindeutig eben dieser Zeit, dieser Stimmung, dieser Politik und diesem Land zuzuordnen? Wenn das so ist (ich bin da noch nicht sicher), dann sind es eben doch politisierte Schriften und man transportiert im Gebrauch dieser Schriften die Ideologie weiter. Ein Beispiel: Wenn jemand in meiner Druckerei Einladungen zu einem "Gartenfest" aus "Fette Deutschland" bestellt (die ich nicht habe), würde ich mich zumindest wundern, wenn nicht sogar nachschauen, ob draußen noch Jungs mit Baseballschlägern und bissigem Hund im Auto sitzen.Die Namengebung Tannenberg um 1934 könnte mit dem "Helden von Tannenberg" Hindenburg zu tun haben, der eben 1934 starb und am Tannenberg-Denkmal beigesetzt wurde. Mir scheint das naheliegend. Insofern auch der Bezug stärker zur Inanspruchnahme der Schlacht und ihres Helden durch die Nationalsozialisten als die Schlacht selbst. Weiß jemand etwas über den Entwerfer Erich Meyer? Aber der allein wird den Namen nicht gegeben haben, sondern es wird wohl vor allem die Gießerei gewesen sein, die die Schrift entsprechend der Zeitstimmung meinte gut verkaufen zu können mit einem sprechenden Namen. Es scheint mir dann aber doch alles zu passen: Hindenburg, Staatsbegräbnis in Tannenberg, Form der Schrift und deren Eignung für Propaganda (Nutzten die Sozialdemokraten auch die steilen, fetten Gotischen?), um die Schrift charakterlich festzulegen. Oder? Die Reporter stammt von Johannes Wagner GmbH, Ingolstadt, ist aus dem Jahr 1939 und von Carl Winkow geschaffen. Einen besonderen Bezug zur DDR sehe ich da nicht. Da würde als "politische Schrift der DDR" vielleicht eher die Agitator von 1960 passen. "...mit Gut und Böse läßt sich das Phänomen nicht greifen..." Hier kann ich nur zustimmen, das ist mein Credo. Dieses schwarz/weiß Denken kommt doch in Deutschland, egal ob BRD oder DDR, allein aus den Erziehungsidealen des Kalten Krieges nach 1945. Der Westen war "der böse kapitalistische Aggressor" und der Osten "Die kommunistische Ditktatur". Eine solche Einstellung bei den Menschen paßte den damaligen Regierungen ins Konzept und geo-politisch war es erwünscht. Danach richten sich von 1945 bis heute sowieso beide Deutschlands bzw. nach 1990 das wiedervereinigte. Natürlich war der Begriff Tannenberg unveränderbar mit dem Namen Hindenburg verbunden. Das Image Hindenburgs ermöglichte Hitler überhaupt erst den "preußischen Anstrich", den er im Mittelstand dringend brauchte. Und er war auf ein offizielles Anerkenntnis durch Hindenburg angewiesen. Hinter dem stand nicht nur die Reichswehr, sondern auch der Stahlhelm und die östlichen Junker, die, hochverschuldet, Hindenburg erfolgreich benutzten, um Anleihen vom Weimarer System zu erhalten. Meine Frage ist: Wenn wir uns einig sind, daß die Nazis ungemein viele nationale Symbole wie z.B. Tannenberg, Hindenburg, aber auch z.B. Schlageter im Rheinland als angeblich "nationalsozialistisch" mit Beschlag belegten... ...wie kann man dann heute zulassen, daß es so stehenbleibt? Es ist dasselbe wie mit diesem Neo-Nazi-Spruch "Ich bin stolz, Deutscher zu sein." Das ist deren Synonym, wird überall sofort mit Neo-Nazis assoziiert. Dabei ist der Spruch eine Unverschämtheit. Nicht die, sondern wir sind Deutschland. Warum lassen wir es zu, saß durch eine solche Kamarilla unser gesamtes nationales Bewußtsein und unser Patriotismus beschmutzt wird? Genau so beim Beispiel der Tannenberg. Überlassen wir sie nicht freiwillig den Nazis, indem wir deren Missbrauch zustimmen, wenn wir die Schrift ebenfalls politisieren? Ich halte das für falsch. Georg
Poms Geschrieben Juni 8, 2006 Geschrieben Juni 8, 2006 Ich habe mal in ein nichtpolitisches Plakat von 1937 die Tannenberg fett eingefügt, sieht doch eher werberisch als NS-propaganistisch aus, oder? Ändert man das Farbklima im Zusammenhang mit "Schaftstiefelgrotesk" gerne verwendete rot, schwarz und weiss in "freundliche Retrofarben", dann ergibt sich gleich ein ganz anderes Bild (auch von der Tannenberg Fett). Wäre dies die einzig bekannte Anwendung der Schrift, käme doch heute niemand auf einen Nazibezug.
Bleisetzer Geschrieben Juni 8, 2006 Themen-Ersteller Geschrieben Juni 8, 2006 Ist es aus unserer heutigen Sicht überhaupt nachzuvollziehen, wie eine Anzeige in der zweiten Hälfte der 30er Jahre auf die Menschen damals gewirkt hat? Wir haben einen völlig anderen kultur-politschen Hintergrund. Diese Anzeigen erschienen 1934 mit einem Sonderteil der Schriftgießerei D.Stempel. Uups. Einstein, unser blöder Kater, hat sich wieder mit aufs Bild gedrängelt, entschuldigung. Die Typographie der 30er Jahre war sehr vielfältig. Die letzten beiden Bilder zeigen Titelblatt-Entwürfe zweier Kollegen von Euch im Zusammenhang mit einem ausgeschriebenen Wettbewerb. Unterschiedlicher kann es wohl kaum gehen.
Formgebung Geschrieben Juni 8, 2006 Geschrieben Juni 8, 2006 Frage: Welche »Schaftstiefelgrotesk« (ich übernehme jetzt mal diesen Namen) war die erste? Der Gedanke dahinter: Eventuell lässt sich über die Chronologie der Veröffentlichung der »Schaftstiefelgrotesken« die zunehmende Aufladung der Namensgebung mit nationalem Inhalt schon belegen. Wäre zwar auch nur ein Indiz ... Georg, kannst Du helfen? Kennst Du die Erstveröffentlichungsdaten von: Tannenberg Standarte Kurmark National Deutschmeister Großdeutsch Ich kann mir gut vorstellen, dass die »Schaftstiefelgrotesken« zunächst den unschuldigen Versuch darstellten, dieser nur noch in Deutschland breit verwendeten Schriftgattung einen modernen Atem einzuhauchen. Insoweit gebe ich Poms recht – prima werblich. In meinen Augen passte das zwar von vornherein gut zum politischen Zeitgeist – aber ich lebe ja auch heute. Letztlich versuchen Auftragskünstler zu jeder Zeit, dem Zeitgeist zu folgen – es wird ja keiner freiwillig Entwürfe machen, die von allen abgelehnt werden. Und damals war Rückgrat wesentlich teurer als in der heutigen, mit sozialen Sicherungen ausgepolsterten Zeit. Und nicht jedem war damals ad hoc klar, dass die Nazis böse Buben sind. Viele haben auch Hoffnungen an sie geknüpft ("mal richtig in diesem ineffizienten Apparat durchgreifen" usw.). Es war auch nicht jeder politisch interessiert, damals so wenig wie heute. Ab irgendeinem Zeitpunkt jedoch dürfte – schon damals – klar geworden sein, dass sich diese Schriftgattung prächtig mit den großdeutschen Phantasmen verknüpfen lässt: Das moderne deutsche Wesen in der typografischen Auslegung. Und das müsste sich dann an den Namen der Nachahmer belegen lassen – oder aus dem Werbematerial der Giessereien. Für das heutige Schriftenmarketing ist sind Erwägungen, wie die Schriften damals gemeint waren, irrelevant. Wenn diese Schriftgattung heute von einigen Leuten goutiert und/oder von anderen abgelehnt wird, dann haben diese Schriften in der heutigen Zeit eben für diese und jene Leute eben diese und jene Bedeutung. Und daran zweifelt hier ja niemand ernstlich. Georg, zu Deinem letzten Post: Du hast das zweifellos nicht absichtlich relativierend gemeint, ist jedoch in dieser Auswahl pikant. Der OSRAM-Schriftzug stammt m.W. von Herrn Kahn alias Lucian Bernhard, zu diesem Zeitpunkt schon nach New York verduftet. Das letzte Beispiel sieht nach Lissitzky bzw. kubistischer/ abstrakter Kunst aus – das galt als entartet. Zu Opel will mirs grad nicht einfallen ... Jedenfalls haben die Nazis keine Zeit verschwendet und schon Anfang 1933 das Karl-Liebknecht-Haus gestürmt. Was man an Deinen Beispielen sehen kann: Sie konnten einfach nicht alles überall gleichzeitig »reinigen«. Henning
Bleisetzer Geschrieben Juni 8, 2006 Themen-Ersteller Geschrieben Juni 8, 2006 Die Anzeigen-Motive sind rein zufällig nach dem Prinzip "Blättern" ausgesucht. Es handelt sich dabei um die Ausgabe Juli 1934, Heft 7 der Graphischen Nachrichten, Herausgeber Reichsbetriebsgemeinschaft Druck, eine typische Fachzeitschrift für Graphiker und Schriftschaffende. Darin ein ca. 10seitiger Bericht der Schriftgießerei D.Stempel über deren Schriften und die Herstellung selbiger. Die meisten Neu-Gotischen Schriften stammen aus den Jahren 1934, 1935. Wie bereits darauf hingewiesen, gab es damals einen Höhepunkt der nationalen Begeisterung in Deutschland, der bis ca. 1938 anhielt. Man "war endlich wieder wer". Das Rheinland, Anfang der 20er Jahre lange Zeit von den Franzosen besetzt und ausgeplündert, galt lt. Versailler Vertrag als "entmilitarisierte Zone". Dort durfte Deutschland keine eigenen Truppen in der eigenen Provinz halten. 1936 marschierte die Wehrmacht dort wieder ein. Sieht man den allgemeinen Zeitgeist damals, dann muß man den Menschen zugestehen, ein ebensolches Nationalgefühl gehabt haben zu dürfen wie damals ein jeder Holländer, Däne oder Franzose es hatte. Da war einerseits der Knebel-"Frieden" von Versailles, den die Mehrheit der Deutschen als ungerecht empfand. Große Teile des Reiches hatten abgetreten werden müssen. Die Polen-Aufstände bedrohten die Ostgrenze. Durch die willkürliche Grenzziehung der Siegermächte 1918 waren große deutsche Bevölkerungsgruppen vom Reich abgeschnitten und in der Diaspora. Alles das versprach nun anders zu werden. Und aus diesem Zeitgeist heraus entstanden diese Schriften. Einige davon: Element, National, Gotenburg, Tannenberg, findet Ihr in der Untergruppe Xa - Gebrochene Schriften - Gotisch. Dabei möchte ich Euch auf noch einige andere Schriften aufmerksam machen: Trump Deutsch von Georg Trump von 1936 und Werbedeutsch von Schelter & Giesecke von 1933, geschaffen von Herbert Thannhaeuser. Ebenfalls Nazi-Schriften? Kommt doch immerhin die Wortsilbe "Deutsch" drin vor: http://www.bleisetzer.de/index.php?targ ... hop&b=0004 Georg
Poms Geschrieben Juni 8, 2006 Geschrieben Juni 8, 2006 @Schweizerdegen Das mit dem unverfänglichen Farbklima soll doch zeigen, dass heute das Fraktur/Nazi-Klischee für den "Otto-Normalverbraucher" doch erst richtig zu funktionieren beginnt, wenn unterschiedliche Parameter aufeinandertreffen. Das ist nicht nur die verwendete Schrift alleine. Es wäre durchaus möglich mit einer Futura Condensed Black eine "Nazi-Athmosphäre" nachzustellen, wenn Formen und Farben entlehnt werden. Viele deutsche Propaganda Plakate während des zweiten Weltkriegs funktionieren in diesem Sinne erstaunlich gut, auch ohne diese 30er Jahre Frakturschriften.
Bleisetzer Geschrieben Juni 8, 2006 Themen-Ersteller Geschrieben Juni 8, 2006 Ich möchte hier widersprechen. Das offizielle Programm der Re-Education sah vor (und hat dieses Ziel auch erreicht), daß den Deutschen jeglicher Militarismus und Nationalismus aberzogen wird. In der heutigen Politik-Landschaft gibt es eine Linke (heißt nicht auch eine post-sozialistische Partei jetzt so?), aber es gibt keine wirkliche Rechte. Die heißt bei uns Neo-Nazis und es wird schlicht nicht differenziert. Jeglicher Gebrauch von Vokalbeln wie "National" werden mit Pawlov'schem Reflex in die Nazi-Schublade geschoben. Ein Deutscher der Nachkriegsgeneration kann gar nicht Patriot oder Nationalist sein, denn sonst wäre er Nazi. Es ist, als gäbe es auf der rechten Seite des politischen Spektrums in Deutschland nichts - außer Nazis. Anderes wird nicht zur Kenntnis genommen. Und das kannst Du in der Gladiola, in der Schwabacher, der fetten Gill oder der Tannenberg schreiben oder über Farbgebung und Formgestaltung zu steuern versuchen - daran ändert sich nichts. Wir, die deutsche Nachkriegsgenerationen, sind traumatisiert. Georg
Formgebung Geschrieben Juni 8, 2006 Geschrieben Juni 8, 2006 Ich möchte mal kurz zum Brennstäbekühlen hier eintauchen: Wenn ich die fette Tannenberg schwarz auf weiß und symmetrisch setze, neben die Walbaum, die Garamond und die Gill stelle, findet dann der typografische, kulturinteressierte, geschichtsbewußte Laie darin die Lingua Tertii Imperii oder stehen da vier nette, für unverfängliche Zwecke einsetzbare Schriften? Die Fragestellung, was jemand in einer Schrift sieht, ist ein zwei- wenn nicht gar mehrschneidiges Schwert. Einerseits können unter Reinraumbedingungen Formqualitäten zweifellos gewertet werden. Eckig=aggressiv, Fett=schwer, massiv, mächtig. Andererseits wird kein Element der visuellen Kommunikation singulär verwendet, das wollte auch Poms mit seinem Beispiel zeigen. Die Schrift trägt eher atmosphärisch als Gewürz oder Zutat zum kommunikativen Gesamtergebnis bei. Die von Dir vorgeschlagene Fragestellung ist daher insoweit unscharf, weil der typografische, kulturinteressierte, geschichtsbewußte Laie eigentlich schon nicht mehr Laie ist und bereits bevorzugt kulturelle Klischees bei der Schriftbeurteilung abruft und weil die Lingua Tertii Imperii als Kommunikationsbotschaft bereits ebenfalls ein beträchtliches Vorwissen mitaktivieren müsste Ich würde für eine neutralere Bewertung Menschen aus anderen Kulturkreisen (Menschen, die möglichst nichts über Typografie und deutsche Geschichte wissen) darum bitten, diesen Schriften auf einer Skala von 1 bis 10 Eigenschaften zuzuweisen. Auf der Basis dieses Ergebnisses könnte man dann versuchen, eine Verbindung zu der historischen Situation herzustellen. Das ist wegen des Gewürzcharakters von Schrift jedoch immer noch ein ziemlich dünnes Eis. Lärmig, brachial, streng: ja, so könnte ein solches Ergebnis aussehen. Damit ließe sich auch prima Sadomaso-Telefonsex-Werbung machen, oder? Henning
Bleisetzer Geschrieben Juni 8, 2006 Themen-Ersteller Geschrieben Juni 8, 2006 Ist das nicht ein sehr pragmatischer und zu bequemer Ausweg? Das Nazi-Regime hat alles und jeden durchtränkt wie Gift. Und hat für seine Zwecke mißbraucht, was ihm dafür geeignet erschien. Dabei nutzte es die "Volksmeinung" wie eine Art Hohlspiegel, nahm diese auf und verstärkte sie als Propaganda-Zweck. So geschehen mit Preußen, mit der Eugenik, mit dem Autobahnbau, mit der Volksgesundheit, mit Neu-Gotischen Schriften. In logischer Konsequenz müßten wir also alle diese Bereiche heute ausgrenzen. Teilweise ist das ja auch so. Eine vorurteilsfreie Diskussion über Eugenik ist in Deutschland nicht möglich. Gleiches gilt für die Idee Preußen. Gleiches gilt, folgt man diesen Ausführungen, auch für Schriften. Entspräche eine solche Haltung nicht einer Art "Innerer Emigration"? Gerade das war doch die häufigste Zuflucht "normaler" Oppositioneller - immer schon und in jedem Regime. Georg
Bleisetzer Geschrieben Juni 8, 2006 Themen-Ersteller Geschrieben Juni 8, 2006 Mir kommt der ganze Austausch ein bißchen vor wie die Beschreibung individueller Vorurteile, die ein jeder von uns hat. Jeder hat andere Erfahrenswerte, interpretiert anders und wertet anders. Jeder bemüht sich, seine Empfindungen zu beschreiben, oft mit Erfolg. Aber ein objektiv erzieltes Ergebnis kann ich nicht erkennen. Wie gesagt: Woanders feiern sie einmal im Jahr den Tag, an dem sie ihrem König und ein paar tausend seiner Anhänger den Kopf abgeschlagen haben und preisen es als Durchbruch für bürgerliche Freiheit. Und in unserem Land können wir uns nicht einmal eindeutig darüber einigen, ob einige Schriften nun Nazis sind oder nicht. Georg
Formgebung Geschrieben Juni 8, 2006 Geschrieben Juni 8, 2006 Und in unserem Land können wir uns nicht einmal eindeutig darüber einigen, ob einige Schriften nun Nazis sind oder nicht. Bei Umformung Deiner Frage (in Deinem Sinne, denke ich) zu: Werden die sogenannten Schaftstiefelgrotesken hier in Deutschland heutzutage als Nazischriften angesehen? Eindeutig ja. Henning
Niklaus Geschrieben Juni 8, 2006 Geschrieben Juni 8, 2006 Jetzt sind wieder eigentlich wieder bei der Ausgangsfrage angelangt (s. oben S. 2: Debatte Phase 1, Runde 2, Bleisetzer–Reynolds [letzterer knapper Punktsieg], Übergang zu Runde 3) …
Niklaus Geschrieben Juni 8, 2006 Geschrieben Juni 8, 2006 Ich würde für eine neutralere Bewertung Menschen aus anderen Kulturkreisen (Menschen, die möglichst nichts über Typografie und deutsche Geschichte wissen) darum bitten, diesen Schriften auf einer Skala von 1 bis 10 Eigenschaften zuzuweisen. Auf der Basis dieses Ergebnisses könnte man dann versuchen, eine Verbindung zu der historischen Situation herzustellen. Das ist wegen des Gewürzcharakters Genau solche ‹internationalen› Tests hat Walter Plata mit Frakturschriften gemacht. Leider muss man ihn, den beinahe schon fanatischen Fraktur-Liebhaber, jedoch etwas der Voreingenommenheit verdächtigen – und zudem hat er das ganze Arrangement reichlich konfus beschrieben.
Empfohlene Beiträge
Erstelle ein Benutzerkonto oder melde dich an, um zu kommentieren
Du musst ein Benutzerkonto haben, um einen Kommentar verfassen zu können
Benutzerkonto erstellen
Neues Benutzerkonto für unsere Community erstellen. Es ist einfach!
Neues Benutzerkonto erstellenEinloggen
Du hast bereits ein Benutzerkonto? Melde dich hier an.
Jetzt anmelden