hey Geschrieben Juli 5, 2007 Geschrieben Juli 5, 2007 Spin-Off aus dem Diskussionsstrang »warum sieht die fraktur aus, wie sie aussieht?« Aber meine Ansicht: Ein Text aus der Zeit, in der Fraktur üblich war, sollte (wenn er es denn überhaupt wert ist) auch im Original zugänglich bleiben. Klar wird bei zunehmendem Zeitabstand die Frage immer wichtiger, wo eine "behutsame" Überarbeitung (so bezeichnet in üblichen Vorwortformulierungen) nötig ist, um eine normale Rezeption zu ermöglichen. Aber dann müssen doch weiterreichende Änderungen erwogen werden als ein Wechsel des Fonts. Und dazu ist eine profunde Kenntnis der Regeln der Zeit erforderlich. Schön, dass dieses Thema hier einmal zur Sprache kommt (vielleicht könnte man die Diskussion auch separat weiterführen?). Hier wird oft von der »Zeit, in der Fraktur üblich war« gesprochen – gemeint ist aber vornehmlich die Zeit von ca. 1800 bis zum Frakturverbot. Diese Texte sind für uns ja – Fraktur hin oder her – in der Regel noch ohne weiteres verständlich. Aber was ist mit einem Text aus dem Mittelalter? dem Barock? Lesen die Original-Fetischisten hier tatsächlich auch ihren Machiavelli, ihren Shakespeare, ihren Molière oder Calderón ›im Original‹? Der durchschnittliche Leser macht sich in der Regel überhaupt keine Vorstellung, welch gewaltige Arbeit hinter einer Neuedition älterer Texte – mein Alltag übrigens – steckt. Gerade das Problem des ›Original‹ – ob Buch oder Musik – ist weitaus komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint: In der Regel hat man ja verschiedene Versionen, Lesarten, Textstufen, Ausgaben, Varianten etc. – die Frage nach dem Layout oder der Schrifttype ist da noch eine der einfachsten. Gruß FlorianG Ich greife die Anregung mal auf und Richte hiermit das Thema ein. Selbst schreib ich aber erst morgen etwas dazu. :wink: Gute Nacht, Philipp
Bleisetzer Geschrieben Juli 6, 2007 Geschrieben Juli 6, 2007 Schön, dass dieses Thema hier einmal zur Sprache kommt (vielleicht könnte man die Diskussion auch separat weiterführen?). Hier wird oft von der »Zeit, in der Fraktur üblich war« gesprochen – gemeint ist aber vornehmlich die Zeit von ca. 1800 bis zum Frakturverbot. Diese Texte sind für uns ja – Fraktur hin oder her – in der Regel noch ohne weiteres verständlich. Aber was ist mit einem Text aus dem Mittelalter? dem Barock? Lesen die Original-Fetischisten hier tatsächlich auch ihren Machiavelli, ihren Shakespeare, ihren Molière oder Calderón ›im Original‹?Der durchschnittliche Leser macht sich in der Regel überhaupt keine Vorstellung, welch gewaltige Arbeit hinter einer Neuedition älterer Texte – mein Alltag übrigens – steckt. Gerade das Problem des ›Original‹ – ob Buch oder Musik – ist weitaus komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint: In der Regel hat man ja verschiedene Versionen, Lesarten, Textstufen, Ausgaben, Varianten etc. – die Frage nach dem Layout oder der Schrifttype ist da noch eine der einfachsten. Gruß FlorianG Mich interessiert dieses Thema auch sehr. Wobei ich interessierter Laie bin und nicht in der Lage, die von Dir angesprochenen Texte wissenschaftlich fundiert zu lesen. Aber ich weiß definitiv durch eigene Anschauung, daß - einmal weitläufig Belletristik genannt - viele solche Werke aus der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts in Neuauflagen textlich "behutsam dem Verständnis unserer modernen Zeit angespaßt wurden". Hierüber mag man noch trefflich streiten können. Ärger und als nicht akzeptabel empfinde ich es, wenn es um geschichtliche Texte geht. Diese sollten, so meine ich, unverändert bleiben. Einfach, weil sie nicht nur die Fakten aus Sicht des jeweiligen Historikers seine Epoche wiedergeben und damit auch eine wichtige Einsicht in das von ihm vertretene Sittenbild (kein Historiker ist in der Lage, Fakten ohne Interpretation aufzuzählen. Es machte auch keinen Sinn.). Naturgemäß habe ich als Laie aber z.B. Probleme, Texte, die von Wallenstein geschrieben wurden oder von Zeitgenossen über ihn (und das fast immer 50-100 Jahre nach seinem Tod) zu verstehen. Als wohltuend empfinde ich dann Historiker wie Golo Mann, die die Inhalte in auch für mich verständlichem Deutsch formulieren, aber ungemein oft dann halt auch die Original-Zitate aus den entsprechenden Schriften hinzufügen. Das gibt mir zumindest ein Gefühl der Kontrolle, ob das von ihm Formulierte dem Text entspricht. Bzw. es baut bei mir Vertrauen zum Autor selbst auf, so daß ich dessen Interpretationen auch als gegeben hinnehme. Überhaupt ist ein solcher Text auch für den Laien nur verständlich, wenn er sich zunächst mit dem Umfeld, in diesem Fall von Wallenstein, beschäftigt. Nur so gibt es die Möglichkeit, vom hohen Roß des heute Lebenden, der durch den zeitlichen Abstand eben auch die nachträgliche Entwicklung kennt, in die damalige Zeit einzutauchen und wenigstens einen Hauch davon zu verstehen und zu würdigen, wie jemand damals gedacht und empfunden hat. Autoren von Werken zur Historie, aber auch zur Musik und zur Kunst interrpetieren mir zu stark. Biegen oft genug den Standpunkt desjenigen, über den sie schreiben, in vorbeugender Policital Correctness um. Das empfinde ich als illegitim und verwerflich. Georg
FlorianG Geschrieben Juli 6, 2007 Geschrieben Juli 6, 2007 Aber ich weiß definitiv durch eigene Anschauung, daß - einmal weitläufig Belletristik genannt - viele solche Werke aus der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts in Neuauflagen textlich "behutsam dem Verständnis unserer modernen Zeit angespaßt wurden". Hierüber mag man noch trefflich streiten können. Das ist eine verbreitete Unsitte, die jeden Philologen schmerzt. Und wenn immer möglich, versucht man, solche Kompromisse zu vermeiden. Manchmal gilt es halt einfach abzuwägen. Nimm zum Beispiel Grimmelshausens »Simplicissimus«: ein für die deutsche Literatur wichtiger, noch heute gut lesbarer Roman. Man kann ihn als Faksimile lesen, in Frakturschrift und im Lautstand des 17. Jahrhunderts, in einer zeichengetreuen textkritischen Ausgabe – oder aber in »behutsam modernisierter« Form. Die Faksimile-Ausgabe verkauft sich jährlich vielleicht drei Mal, mit der textkritischen Ausgabe erreicht man ein paar Dutzend Bildungsbürger – aber dem breiten Publikum bleibt der Roman damit unzugänglich. Die Reclam-Ausgabe (horribile dictu, sogar in Neuer Rechtschreibung!) geht hingegen weg wie warme Semmeln und verhilft Generationen von Schülern dazu, diesen Text kennenzulernen. Soll der Roman also ein paar wenigen Kennern vorbehalten bleiben? Oder nimmt man den Kompromiss in Kauf, erreicht dafür ein paar tausend Leser mehr? – Eine solche modernisierte Ausgabe mit Kommentar zu erstellen, benötigt übrigens gut und gern ein bis zwei Jahre Arbeit … Zitat aus dem anderern Thread: Ich habe ihm vor einem Jahr die Nibelungensage zum Lesen gegeben. Ein Buch, das meiner Meinung nach jeder deutsche Jugendliche kennen muß. Natürlich geschrieben nach der Alten Rechtschreibung. Er hatte Mühe damit und neigt mittlerweile zum Lesen englischer, genauer amerikanischer Texte, weil es dort "nicht so auf die Rechtschreibung und vor allem auf die Groß-/Kleinschreibung ankommt" Das ist doch ein gutes Beispiel, für das, was ich meine. Welche Ausgabe des »Nibelungenlieds« hast Du denn Deinem Sohn zum Lesen gegeben? Wohl kaum eine Faksimile-Ausgabe des mittelalterlichen Textes, sondern eine moderne Lese-Ausgabe – vielleicht eine ›alte‹, das heißt eine aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Aber auch diese ist – Fraktur hin oder her, ob neue oder alte Rechtschreibung – eine massiv erneuerte, ›verbesserte‹, ja in Gewissem Sinn ›übersetzte‹ Ausgabe. Gruß FlorianG
Bleisetzer Geschrieben Juli 6, 2007 Geschrieben Juli 6, 2007 Aber ich weiß definitiv durch eigene Anschauung, daß - einmal weitläufig Belletristik genannt - viele solche Werke aus der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts in Neuauflagen textlich "behutsam dem Verständnis unserer modernen Zeit angespaßt wurden". Hierüber mag man noch trefflich streiten können. Das ist eine verbreitete Unsitte, die jeden Philologen schmerzt. Und wenn immer möglich, versucht man, solche Kompromisse zu vermeiden. Manchmal gilt es halt einfach abzuwägen. Nimm zum Beispiel Grimmelshausens »Simplicissimus«: ein für die deutsche Literatur wichtiger, noch heute gut lesbarer Roman. Man kann ihn als Faksimile lesen, in Frakturschrift und im Lautstand des 17. Jahrhunderts, in einer zeichengetreuen textkritischen Ausgabe – oder aber in »behutsam modernisierter« Form. Die Faksimile-Ausgabe verkauft sich jährlich vielleicht drei Mal, mit der textkritischen Ausgabe erreicht man ein paar Dutzend Bildungsbürger – aber dem breiten Publikum bleibt der Roman damit unzugänglich. Die Reclam-Ausgabe (horribile dictu, sogar in Neuer Rechtschreibung!) geht hingegen weg wie warme Semmeln und verhilft Generationen von Schülern dazu, diesen Text kennenzulernen. Soll der Roman also ein paar wenigen Kennern vorbehalten bleiben? Oder nimmt man den Kompromiss in Kauf, erreicht dafür ein paar tausend Leser mehr? – Eine solche modernisierte Ausgabe mit Kommentar zu erstellen, benötigt übrigens gut und gern ein bis zwei Jahre Arbeit … Ja, wohl wahr. Wahrscheinlich ist das jedesmal erneut ein Drahtseil-Akt, inwieweit man Texte anpaßt, um eine größere Leserschaft zu erreichen. Mir persönlich hat es nicht geschadet. Ich habe sehr häufig erst die neue Ausgabe gelesen, später dann das Original. Gleiches gilt ja auch für deutsche Übersetzungen z.B. ausländischer Literatur. Mein Englisch reicht aus für einen Mickey Spillane oder irgendeinen "Polit-Thriller", aber nicht einmal für einen John Irving oder Truman Capote, geschweige denn für einen Tchechow. Aber wäre es nicht ein entsetzlicher Verlust für mich, hätte ich diese Autoren nicht zumindest in der deutschen Übersetzung kennengelernt? Zitat aus dem anderern Thread:Ich habe ihm vor einem Jahr die Nibelungensage zum Lesen gegeben. Ein Buch, das meiner Meinung nach jeder deutsche Jugendliche kennen muß. Natürlich geschrieben nach der Alten Rechtschreibung. Er hatte Mühe damit und neigt mittlerweile zum Lesen englischer, genauer amerikanischer Texte, weil es dort "nicht so auf die Rechtschreibung und vor allem auf die Groß-/Kleinschreibung ankommt" Das ist doch ein gutes Beispiel, für das, was ich meine. Welche Ausgabe des »Nibelungenlieds« hast Du denn Deinem Sohn zum Lesen gegeben? Wohl kaum eine Faksimile-Ausgabe des mittelalterlichen Textes, sondern eine moderne Lese-Ausgabe – vielleicht eine ›alte‹, das heißt eine aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Aber auch diese ist – Fraktur hin oder her, ob neue oder alte Rechtschreibung – eine massiv erneuerte, ›verbesserte‹, ja in Gewissem Sinn ›übersetzte‹ Ausgabe. Gruß FlorianG Ich habe ihm (m)ein Original von 1965 gegeben - ein Jungenbuch "Deutsche Heldensagen". Es ging mir vorrangig darum, ihm die Zusammenhänge zwischen deutscher Wesensart und dem Zustandekommen eben dieser anhand der Nibelungensage aufzuzeigen. Selbst dort ging es mir mehr um die Rolle des Hagen von Tronje, seinem Bewußtsein für Staatsräson und Treue. Das Beispiel ist übrigens sehr frisch. Wir diskutierten über die zur Zeit laufende Diskussion bezüglich der abgeurteilten deutschen Deserteure des letzten Krieges und den Bemühungen gewisser Kreise um deren "Rehabilitation". Als Enkel und Urenkel deutscher Berufssoldaten, der selbst den Wehrdienst verweigern wird, ist das Thema für ihn sehr wichtig. Georg
FlorianG Geschrieben Juli 6, 2007 Geschrieben Juli 6, 2007 Ich habe ihm (m)ein Original von 1965 gegeben - ein Jungenbuch "Deutsche Heldensagen". Das meine ich ja: Für Dich ist diese Ausgabe (D)ein Original – eine Ausgabe, die Nacherzählungen von Sagen enthält, die sich – über mindestens zwei oder drei ›Stationen‹ – schon sehr weit vom ursprünglichen Text entfernt haben. Was für Dich das ›Original‹ ist, ist also eine Interpretation des 20. Jahrhunderts: Hier hat ein moderner Herausgeber eine mittelalterliche Sage übersetzt – wohl auch geglättet und frisiert. Dies ist ja legitim, denn Dir kommt es wohl auf den Gehalt der Sage und nicht auf jeden Buchstaben an. Das wahre Original ist aber nicht die Ausgabe von 1965, sondern die mittelalterliche Handschrift. Auf die Musik übertragen: eine vermeintlich ›historische‹ Einspielung klassischer Musik aus dem 20. Jahrhundert ist ebenfalls immer schon eine Interpretation, und nicht die Wiedergabe des ›Originals‹. Das verkennen eben viele … Gruß FlorianG
Bleisetzer Geschrieben Juli 6, 2007 Geschrieben Juli 6, 2007 Ich habe ihm (m)ein Original von 1965 gegeben - ein Jungenbuch "Deutsche Heldensagen". Das meine ich ja: Für Dich ist diese Ausgabe (D)ein Original – eine Ausgabe, die Nacherzählungen von Sagen erhält, die sich über mindestens zwei oder drei ›Stationen‹ weg schon sehr weit vom ursprünglichen Text entfernt haben. Was für Dich das ›Original‹ ist, ist also eine Interpretation des 20. Jahrhunderts: Hier hat ein moderner Herausgeber eine mittelalterliche Sage übersetzt, wohl auch geglättet und frisiert. Das wahre Original ist ja nicht die Ausgabe von 1965, sondern die mittelalterliche Handschrift. – Auf die Musik übertragen: eine vermeintlich ›historische‹ Einspielung klassischer Musik ist ebenfalls eine moderne Interpretation, und nicht das ›Original‹. Gruß FlorianG Oh ja, das ist mir sehr sehr bewußt. Mich hat diese Ausgabe geprägt. So sehr, daß ich eine im vorigen Jahr eine Ausgabe des Nibelungen-Liedes aus dem Jahr 1932 als zwar sehr schön vom Satz her, aber fast unverständlich empfand. Und auch einer modernen Interpretation, die mir hier vor einigen Monaten empfohlen wurde und die ich las, eher ablehnend gegenüberstehe. Aber bei Sagen, die ja vor allem auch durch ihre mündliche Überlieferung und von Generation zu Generation wechselnder Interpretation unterworfen sind, halte ich das für durchaus legitim. Genau so lange, wie die durchgehende Grundaussage nicht verfälscht wird. Gerade das macht ja ihren Wert aus, mit dem sie im Falle der Nibelungensage unseren deutschen Volkscharakter aufzeigen. Ich weiß nicht, ob ich habe ausdrücken können, was ich meine. Georg
Norbert P Geschrieben Juli 6, 2007 Geschrieben Juli 6, 2007 Widersprichst du dir nicht gerade erheblich???
Gast Geschrieben Juli 6, 2007 Geschrieben Juli 6, 2007 @FlorianG.: Mit dem Simplicissimus bist Du mir zuvorgekommen. Den habe ich zum ersten Mal in einer Reclamausgabe gelesen, die ich vor über 30 Jahren auf einem Kamelmarkt in Tunesien buchstäblich im Dreck liegen sah und sehr wohlfeil erstehen konnte. Durch Aufmachung und Frakturschrift kam es mir als Schüler schon sehr antik vor, inzwischen ist mir klar, daß es eine kastrierte Version war, dem Zeitgeist entsprechend, dem von 1894 (geschätzt). Apropos: Weiß jemand, wann jeder Band in Reclams Universal-Bibliothek 20 Pfennig kostete? Die Frage also, welchen Grimmelshausen man heute im Buchladen kaufen können soll, finde ich ungemein schwer. Wir sollten wollen, daß er zugänglich und verständlich bleibt, ohne philologische Erläuterungsbände und Fußnotenorgien und Anhangkapitel, sondern das saftige Stück Lebensbeichte, das es mal war, Biographie, Zeitdokument, Kulturspiegel und spannende Unterhaltung. Hut ab vor den Philologen, die das hinkriegen.
FlorianG Geschrieben Juli 6, 2007 Geschrieben Juli 6, 2007 Sieh an: orthographisch verändert, gekürzt und beschnitten – auf dass die »schädlichen« »Rohheiten« und »Liebesabenteuer« die Jugend nicht verderben. Von wem ist die Ausgabe herausgegeben? Der Unterschied, das zeigt sich doch, besteht eben nicht zwischen (guter) ›Originalausgabe‹ und (schlechter) überarbeiteter Ausgabe, sondern zwischen guter und schlechter Editionsarbeit. Eine gut gemachte überarbeitete Edition ist mindestens so aufwendig wie die Reproduktion des Originals. Volker Meid hat in der »Simplicissimus«-Ausgabe bei Reclam m. E. einen optimalen Kompromiss gefunden. Gruß FlorianG
Gast Geschrieben Juli 6, 2007 Geschrieben Juli 6, 2007 Von wem ist die Ausgabe herausgegeben? Herausgegeben von Philipp Lenz Druck und Verlag von Philipp Reclam jun. Und ich habe doch einen Hinweis auf das Erscheinungsjahr gefunden: Die Verlagswerbung hinten im Buch listet die 1120 Bände, die "bis September 1879 erschienen" waren.
Norbert P Geschrieben Juli 6, 2007 Geschrieben Juli 6, 2007 Einen Querschläger dazu: Die meisten Chinesen gehen heutzutage davon aus, dass sie die Tang-Dichtung (also im Kern die Lyrik des 7.-9. Jh.s) verstehen. Lesen können sie sie auch, die Zeichen sind nahezu unverändert. Nur reimen beispielsweise - wegen der Lautveränderungen - die Verse heute nicht mehr so, wie sie es einst taten. Mal ganz abgesehen davon, dass die Grammatik der "klassischen" literarischen Sprache (das war schon zur Tang-Zeit längst kein Umgangschinesich mehr) so völlig anders ist. Was ich damit sagen will: Hier kann ich selbst aufmerksam lesen, hier kenne ich mich immerhin so weit aus, dass ich die Fallstricke kenne. In meiner eigenen Sprache bin ich naturgemäß (als "bloßer" Leser) viel betriebsblinder. Fazit: Mir persönlich ist eine gut gemachte Edition allemal lieber als eine Reproduktion. Schließlich ist Sprache immer im Fluss, Wortbedeutungen verschieben sich, Kontext rutscht aus seiner Zeit heraus. Zu einer "lesbareren" Edition gehört auch eine mir leicht zugängliche Typographie. PS: Das Reclam-Beispiel finde ich sehr treffend, war man doch bis in die Mitte des 20 Jh.s immer sehr großzügig in der Bearbeitung "originaler" Texte. Veröffentlichungen vor 1960 Authentizität zu unterstellen, nur weil die Seitenränder angegilbt sind oder der Text in Fraktur abgesetzt ist, betrachte ich als gewagt.
Bleisetzer Geschrieben Juli 7, 2007 Geschrieben Juli 7, 2007 Sträflich wird es halt, wenn in vorbeugender "Political Correctness" in Neuerscheinungen nach 1945 Literatur aus der Zeit ab, sagen wir, 1900, "behutsam verändert wird", indem z.B. antisemitische Tendenzen entfernt wurden. Wobei: Teilweise mußten bzw. müssen die Verlage sogar so vorgehen, um nicht in Widerspruch zur heutigen Rechtslage zu geraten. Aus Sicht der Volkserziehung jedoch führt genau dies dazu, daß man heute meinen könnte, die "Nazis" wären Fremdlinge vom Mars gewesen, die 1933 Deutschland überfielen und 1945 mit einem großen Bumms wieder aus Deutschland verschwanden. Denn völkische und antisemitische Tendenzen wird man in Neuauflagen keine finden, wohl aber in den Originalen. Folge: Heute ist es doch tatsächlich ein "Skandal", daß Martin Walser, Dieter Hildebrandt und Siegfried Lenz in ihrer frühen Jugend NSDAP-Mitglieder waren. Und Deserteure werden unreflektiert und pauschal selig gesprochen. Völlig ausgeblendet wird die Tatsache, daß es zum Kriegsende vier Millionen NSDAP-Mitglieder gab. Ich weiß schon, warum ich nur Originale lese und keine interpretierten Neuerscheinungen. Wieviel Scheinheiligkeit und Bigotterie doch aus deren amerikanischer "Political Correctness" führt...
FlorianG Geschrieben Juli 7, 2007 Geschrieben Juli 7, 2007 Georg, kannst Du bitte einmal konkret ein paar Beispieltitel aus der Zeit nach 1900 nennen, die in der Nachkriegszeit von ungewünschten – antisemitischen, völkischen oder nationalsozialistischen – Stellen gesäubert worden sind? Oder was für Titel sind es denn zum Beispiel, die Du ›im Original‹ liest und nicht in einer zensierten Version?
Bleisetzer Geschrieben Juli 7, 2007 Geschrieben Juli 7, 2007 So wie das "originale" Nibelungenlied? Welche, Norbert, welche :?: Zuletzt las ich zu diesem Thema "Siegfried und Krimhild" von Jürgen Lodemann von Klett-Cotta. Das hat geographisch zwar nicht mehr sehr viel mit den Wormsern zu tun, aber ärger: Die ist mir nicht einmal mehr Symbol für das Deutsche an sich. Vermutlich weißt Du besser als ich, daß die Nibelungen-Sage mit Ursprung im Nibelungen-Lied in vielen Variationen vorliegt. Wenigstens einer davon haben wir Deutsche uns wohl bemächtigt. Wobei, noch einmal: Was mich seit meiner Kindheit faszinierte, war nicht Siegfried, sondern Hagen. Seine Freundschaft mit Volker, seine Treue gegenüber seinem König und seinen Kampfgefährten, aber auch sein Sinn für die "Staatsräson". Und seine Bereitschaft zur letzten Konsequenz, als er, den Schatz im Rhein versenkend "weil wir ihn nicht mehr brauchen, da wir nicht wiederkehren", seinem König wissend an Etzels Hof folgt. Und dort aufrecht kämpft und fällt. Ja, dieser Kern hat etwas. Georg
FlorianG Geschrieben Juli 8, 2007 Geschrieben Juli 8, 2007 Um noch einmal auf Deine vorigen Bemerkungen zurückzukommen: Kannst Du ein paar Titel nennen, die nach 1945 zensiert worden sind und die Du bevorzugt im Original zu lesen pflegst? Schönen Sonntag FlorianG
Bleisetzer Geschrieben Juli 8, 2007 Geschrieben Juli 8, 2007 Um noch einmal auf Deine vorigen Bemerkungen zurückzukommen: Kannst Du ein paar Titel nennen, die nach 1945 zensiert worden sind und die Du bevorzugt im Original zu lesen pflegst?Schönen Sonntag FlorianG Es gibt eine "Liste der auszusondernden Literatur", die nach 1945 in mehreren Auflagen, zuletzt Anfang der 1950er Jahre in Leipzig erstellt wurde. Ironie dabei: Von derselben Stelle, die zuvor im Auftrag der Nationalsozialisten unerwünschte Literatur aussonderte - man kannte sich halt mit dem Prozedere gut aus. Sie umfaßt über 30.000 Publikationen und war keinesfalls auf die Sowjetisch Besetzte Zone begrenzt, wie der Verweis auf den ersten Blick erscheinen lassen mag: http://www.polunbi.de/bibliothek/1946-nslit.html Diese Liste war Teil des offiziellen Projektes der Re-Education (siehe http://www.zvab.com). Teile dieser Literatur durften publiziert werden, nachdem sie "überarbeitet und den Grundsätzen des Re-Education-Programmes entspachen". Andere nicht. Erst sehr seit einigen Jahren gibt es Reprints diverser Werke, also keine überarbeitete Neuauflagen, sondern Faksimile-Drucke z.B. vom Berg-Verlag. Hier scheint die Sonne. Georg
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