Þorsten Geschrieben Oktober 23, 2015 Geschrieben Oktober 23, 2015 Ich wollte nichts abtun Das war ja auch nicht an dich gerichtet, sondern an die, die hier ständig, alle, die diese Schriften zielgenau in die Mitte der neuen Leitkultur platzieren wollten, pauschal entlasten. Werbetexter, Verkäufer und ja, auch Schriftgestalter, wollten nach dieser Lesart alle nur Geld verdienen. Ist doch nix dabei! Das heißt doch noch lange nicht, dass sie Nazis waren! Und ihre Produkte, die natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern im Gegenteil zielgruppengerecht gestaltet wurden, waren natürlich demnach auch keine für Nazis gemachten Produkte, sondern ganz normale, neutrale Schriften. Wurden die Schaftstiefelgrotesken mit nationalistischen Hintergedanken erschaffen bzw. reflektiert ihre Gestaltung nationalistische Ideologien? Genau. Sicher ist es theoretisch möglich, dass die erste SSG in irgendeinem Elfenbeinturm als intellektueller Exkurs, völlig losgelöst vom Geist der Zeit, entstanden ist. Aber ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass sich ohne die Nazis über Nacht ein ganzes Genre solcher Schriften entwickelt hätte, die dann eine Zeitlang auch noch überaus populär waren – nur um wenige Jahre später dann fast komplett wieder zu verschwinden. 2
Phoibos Geschrieben Oktober 23, 2015 Geschrieben Oktober 23, 2015 Aber ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass sich ohne die Nazis über Nacht ein ganzes Genre solcher Schriften entwickelt hätte, die dann eine Zeitlang auch noch überaus populär waren – nur um wenige Jahre später dann fast komplett wieder zu verschwinden. Passiert doch jetzt mit den Letterpress-Schriften und Hipster-Gedönse auch. Nennt sich Modewelle. Sind deswegen jene Schriften Repräsentanten einer gewollten Unterstützung der Weltfinanzkrise und deren Verursacher? Koinzidenz ist weiterhin keine Kausalität. (Und nein, ich will keinen Nebenschauplatz eröffnen, das ist wie bei den oben erwähnten DDR-Schriften, nur eine Analogie). 3
austerlitz Geschrieben Oktober 23, 2015 Geschrieben Oktober 23, 2015 Aber ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass sich ohne die Nazis über Nacht ein ganzes Genre solcher Schriften entwickelt hätte, die dann eine Zeitlang auch noch überaus populär waren – nur um wenige Jahre später dann fast komplett wieder zu verschwinden. Neben die zeitliche Übereinstemmung treten weitere bereits genannte Indizien: Nationalistische Namen wie Tannenberg oder National; Anpreisung der Schriften mit Texten wie «Ausdruck neuer Deutscher Formgesinnung»; gestalterische Verbindung von deutscher Schrift und moderner Formreduzierung, was sich leicht mit der nationalsozialistischen Ideologie von Deutschtum und Moderne assoziieren lässt. 1
Phoibos Geschrieben Oktober 23, 2015 Geschrieben Oktober 23, 2015 Neben die zeitliche Übereinstemmung treten weitere bereits genannte Indizien: Nationalistische Namen wie Tannenberg oder National; Anpreisung der Schriften mit Texten wie «Ausdruck neuer Deutscher Formgesinnung»; gestalterische Verbindung von deutscher Schrift und moderner Formreduzierung, was sich leicht mit der nationalsozialistischen Ideologie von Deutschtum und Moderne assoziieren lässt. Marketinggeschwurbel hilft nicht die Motivation der Autoren zu erkennen, nur die Märkte, auf die im Nachhinein gezielt wurden, und die Denke der Vertreibenden (zu 1 und 2). Und 3 ist unterliegt der faktisch falschen Annahme der Existenz einer deutschen Schrift, einem völkisch/nationalistischen Propaganda-Terminus, und finde ich auch nicht hilfreich, wenn ich mich an die Beispiele weiter oben zeigen (moderne, formenreduzierte "welsche Schrift" an KZ). Schulbücher (ich glaube, mein Mathematik-Buch für die Oberstufe war in einer gebrochenen Groteske gedruckt) und das Stuttgarter Schuldbekenntnis könnten aus Bleimangel weiterhin in Tannenberg & Konsorten gedruckt worden sein. Oder es spielte schlicht keine Rolle für die damaligen Verlage, weil die Schrift erst später derart als ideologisch verbrannt betrachtet wurden.
Ralf Herrmann Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Ralf, ich fürchte, mit Willberg kannst du nicht ordentlich argumentieren. Ich argumentiere auch nicht »mit ihm«. Erstens braucht mein Standpunkt in dieser Sache kein Argumentum ad verecundiam. Auf dieser Basis hast du versucht zu Punkten und ich erlaube mir darauf hinzuweisen, dass eben jene Expertenmeinungen in deinem Sinne von einem eben jener Experten wieder infrage gestellt wurden. Für meine Begriffe übrigens recht eindeutig. Dass du das versuchst zu relativieren liegt wohl eher daran, dass es nicht zu deinem Standpunkt passt. Zweitens verweise ich nicht auf Willberg um zu sagen »Schaut her! Ein Willberg teilt meinen Standpunkt«, sondern um seine schlagkräftigen Argumente/Fragen in dieser Sache in Erinnerung zu rufen und darum zu bitten, sie zu bedenken. Sie sind inhaltlich schlagkräftig, egal wer sie sagt und unabhängig davon, ob du meinst in den Texten ansonsten Widersprüche zu finden. Letzteres ist irrelevant. P.S. Gerade in meiner Facebook-Timeline gesehen:
austerlitz Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Marketinggeschwurbel hilft nicht die Motivation der Autoren zu erkennen, nur die Märkte, auf die im Nachhinein gezielt wurden, und die Denke der Vertreibenden (zu 1 und 2). Immerhin legt es die Vermutung nahe, dass man nahe am Ursprung der Schrift eine deutschnationale Affinität hatte, entweder aus Überzeugung oder aus Mitläufertum, sei es nun bei den Autoren oder im Marketing. Und 3 ist unterliegt der faktisch falschen Annahme der Existenz einer deutschen Schrift, einem völkisch/nationalistischen Propaganda-Terminus, und finde ich auch nicht hilfreich, Pardon, aber der Name deutsche Schrift ist seit Jahrhunderten verbreitet. Heute mag er ein gewisses Missbehagen auslösen, aber in der Zwischenkriegszeit hatte man solche Berührungsängste gewiss nicht. 1
catfonts Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Nun, ich möchte behaupten, dass nahezu jeder damals, aus den Erfahrungen des Krieges und der schweren Zeit danach, der Stellung der eigenen Heimat zwischen ja eindeutig nicht gerade freundschaftlich gesinnten Nachbarstaaten, und dessen, was man damals sah, hörte, erlebte und lesen konnte, praktisch ohne sich als Extremist in irgend einer Form zu sehen ein nationalistisches Weltbild entwickelte. Ich glaube sehr, hätte ich in dieser Zeit gelebt, währe es mir sicherlich nicht anders ergangen, und auch die, die heute jeden nationalistischen Gedanken wehement ablehnen können sich nicht sicher sein, unter den damaligen Bedingungen einen Halt in einer Rückbesinnung auf vermeindlich deutsche Tugenden und eine, wenn auch oft nur eingebildete große deusche Geschichte zu suchen. Das dies dann den Nazis das Feld bereitet hat, auf dem sie dann ihre Saat ausbringen konnten, ist eine unbestrittene Tatsache. Und als asich dann in debn ersten Jahren deutliche Erfolge zeigten, waren ja selbst im Ausland viele, auch hochgestellte Persönlichkeiten "Nazi-Fans", und das, was wir heute über diese Leute wissen, hat die Mehrheit damals einfach nicht wissen wollen, ja, gut möglich, in vielen Fällen dann auch nicht gewusst. Praktisch jeder, der dieses Deutschland zur Olympiade 36 besuchte, konnte es kaum glauben, dass dies das gleiche Land war, das gerade einmal 10 Jahre zuvor noch am Boden lag. Das dies nicht einmal ein Jahrzehnt später noch schlimmer sein wird, ahnte damals kaum jemand. Und so war dieses "Marketing-Geschwurbel" schlicht ein aufgreifen eines tatsächlich in weiten Kreisen vorherrschenden Nationalgefühls, ohne das diese Menschen jetzt in aller Konsequenz auch Anhänger des Nationalsozialismus in allen Bereichen sein mussten. Man musste, um diesen "Nationalstolz" zu entwickeln einfach nicht zwingend auch Antisemitisch sein, es machte es aler eben auch leichter. Auf der anderen seite bedarf es aber auch nicht diesem gefühlten Nationalismus, um antisemitische Einstellungen zu entwickeln. Schaue ich nich heute im Internet auf diversen Portalen und in sozialen Netzwerken um, sehe ich einen deutlichen Anstieg einer neuen, antisemitischen Einstellung und von ganz normalen Bürgern hervorgebrachter antisemitiscvher Propaganda, indem Nachrichten von Verstößen eines semitischen Bevölkerungasteils deutlich überhöht dargestellt werden - nur sind es eben heute andere Semiten... Aber ein anderes Thema: Gehe ich durch die Straßen, empfinde ich die Texte, denen ich auf Werbetafeln unf Plakaten, als Ladenbeschriftung, auf Fahrzeugen usw. sehe, als würde ich von allen Seiten her angesprochen. Irgendwie erzeugen diese Texte einen gewissen "Lärm" im Kopf, weil ich, obwohl ich dies eigentlich gar niocht will, diese Texte fast automatisch eben doch lese. Echt, manchmal beneide ich Analphabeten. Und hier erzeugen eben die verwendeten Schriften auch einen eigenen Klang zu diesen Texten. Manche Schriften sind fürchterlich laut, andere, die eigentlich laut sein wollen, erzeugen nur ein heiseres Flüstern, wieder andere bringen Texte zum singen, und die hier beschriebene Schriftart mit ihrem strengen Gitter, das wie ein Zebrastreifen wirkt scheint an jedes Wort ein Ausrufezeichen zu setzen. Das war auch ganz bestimmt vorgesehen. Schriften sind irgendwie wie Instrumente. Sie geben Texten einen eigenen Klang. Und genau, wie man ein und das serlbe Musikstück mit unterschiedlichsten Instrumenten spielen kann, kann man Texte eben in den unterschiedlichsten Schriften setzen. Und genau wie bei den Schriften sind eben auch Instrumente, oder eine spzielle Instrumentierung den Moden unterworfen. Sehe ich heute Bilder der Mode aus den 80ern, fragt man sich, wie hat man blos so herumlaufen können. Aber seien wir ehrlich, wir alle empfanden das damals als gänzlich normal. Auch können Instrumente einem beliebigen Musikstück eine Färbung geben, die Bezüge herstellt, die in der Musik selbst überhaupt nicht enthalten ist. Spiele ich beispielsweise moderne Pop-Musik auf einer großen Orgel, bekommt diese einen irgendwie religiösen Beigeschmack, spielt das jedoch eine Schalmeienkapelle würde selbst ein Nazi-Lied sehr nach Links rücken. Und genau so, wie eine Schriftart, obwohl geschichtlich eben nicht in Deutschland erfunden, gefühlsmäßig eine "Deutsche Schrift" sein kann, gilt das genau so auch für Instrumente. Das ist aber letztlich weder gut noch schlecht. OK, das mag jetzt vielleicht ein bisschen durcheinander gegangen sein, ich bitte mir diesen Gefühlsausdruck zu vergeben... 1
Martin Z. Schröder Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Nun, ich möchte behaupten, dass nahezu jeder damals, aus den Erfahrungen des Krieges und der schweren Zeit danach, der Stellung der eigenen Heimat zwischen ja eindeutig nicht gerade freundschaftlich gesinnten Nachbarstaaten, und dessen, was man damals sah, hörte, erlebte und lesen konnte, praktisch ohne sich als Extremist in irgend einer Form zu sehen ein nationalistisches Weltbild entwickelte. Ich glaube sehr, hätte (...) Ich gehe nicht auf Details ein, nur der Vollständigkeit halber, fürs Protokoll: dieses Geschichtsbild ist verquast, wirr und falsch und relativiert die Schuld der Schuldigen und die Unschuld und Gegnerschaft der Unschuldigen und Gegner. 2
Pachulke Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Ja, aber es ist doch die Frage, ob die Assoziation sich erst hinther auf die Schriften niedergeschlagen hat, nachdem die Nationalsozialisten sie nutzen, oder ob beim Schaffen der Schriftform bereits eine solche Assoziation beabsichtigt war. Die Huhn-oder-Ei-Frage eben.
Thomas Kunz Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Im Zusammenhang der Tannenberg möchte ich an Andreas Kopps (Autor von NSCI) Kolumne in der Novum 08/2009 erinnern. Hier gibt es den Text als pdf-Datei. 2
catfonts Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Ob mein Geschichtsbild hier wirklich so falsch ist, wage ich zu bezweifeln. Heute ist es leicht, die Schuld zu sehen, aber damalas hattebn die Menschen eben oft keine Möglichkeit, sich die Informationen zu beschaffen (und eben auch keinen Abnlass dazu gesehen) die wir heute haben. Und wie steuerbar letztlich jeder ist, beobachte ich auch heute.
Kathrinvdm Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Ich gehe nicht auf Details ein, nur der Vollständigkeit halber, fürs Protokoll: dieses Geschichtsbild ist verquast, wirr und falsch und relativiert die Schuld der Schuldigen und die Unschuld und Gegnerschaft der Unschuldigen und Gegner. Das lese ich aus Catfonts’ Gesamtkontext nicht heraus. Catfonts hat für meine Begriffe das gesellschaftliche Klima darstellen wollen, welches damals herrschte. In seinem Text geht es doch nicht darum, Schuld zu relativieren, sondern darum, welche politischen Strömungen damals vorherrschten, woher sie sich entwickelten und wie sehr man deren Einflüssen ausgesetzt war, selbst wenn man diese nicht aktiv gesucht hat. Also die Beschreibung jenes Klimas, das die Menschen anfällig und empfänglich gemacht hat für die Verlockungen der Nationalsozialisten. Dazu dient der Vergleich mit den Plakaten, die heutzutage auf den Menschen, der sich im öffentlichen Raum bewegt, einstürmen und mit dem ganzen typografischen Instrumentarium um seine Aufmerksamkeit ringen. Auch diese Plakate hinterlassen ihre Werbebotschaft vermutlich nachdrücklicher in unseren Hirnen, als wir das gerne wahrhaben würden. Um den Anfängen wehren zu können, müssen wir uns immer und immer wieder vergegenwärtigen, wie diese Anfänge aussahen und aussehen. Und wir müssen in der Lage sein, Parallelen zu ziehen, veränderte Erscheinungsformen zu entschlüsseln und rechtzeitig aufzuzeigen, wo heutzutage versteckte Gefahren und unselige Anfänge lauern (könnten). Wolf-im-Schafspelz-Propaganda muss enttarnt werden und auch wir Gestalter haben die Pflicht, die grafischen Zeichen unserer Zeit aufmerksam zu betrachten und zu warnen, wenn diese missbraucht werden. Und ich fürchte, die Zeichen sind sehr viel subtiler geworden. Würden alle nationalsozialistisch Gesinnten Glatze und Springerstiefel tragen und ausschließlich in Schaftstiefelgrotesken korrespondieren – es wäre so einfach, sie zu erkennen! Aber heute läuft das subtiler ab und die Rechten verwenden die Ausdrucksmittel anderer Gruppierungen recht virtuos als Mimikri. Also müssen wir noch genauer hinsehen und noch genauer zwischen den Zeilen lesen – gerade, wenn diese mit in diesem Kontext unverfänglichen Schriftarten gesetzt wurden. Aber nun wieder zurück zur Ausgangsfrage: Sind die Assoziationen der Schaftstiefelgrotesken mit Nationalismus nachträglich entstanden oder hatten sie bereits deren Erschaffer, als sie die Schrift schufen? 1
catfonts Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 In diesem Zusammenhang ein Fund im Netz: http://signalarchiv.de/Meldungen/10001011
Kathrinvdm Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Im Zusammenhang der Tannenberg möchte ich an Andreas Kopps (Autor von NSCI) Kolumne in der Novum 08/2009 erinnern. Hier gibt es den Text als pdf-Datei. Andreas Koop schreibt in NSCI dazu: (…) Moderne alte Schriften Die Entscheidung war also gefallen, die gebrochenen Schriften zu präferieren. Doch nicht allen reichte die rein historisierende Anwendung dessen, was als deutsch galt. Einige Schriftgestalter, vor allem in den Jahren 1932 und 1937, versuchten eine Modernisierung, Neuinterpretation, im Grunde eine »Groteskisierung« der gebrochenen Schrift, analog den Grotesk-Typen als serifenlose »lateinische« Buchstaben. Legitim, freilich, nur nicht unbedingt gelungen – das zumindest ist die (retrospektive, auf etwas geschichtlich Gescheitertes blickende) weithin verbreitete Meinung unter Fachleuten. Ideologisch affin und marketingwirksam war auch deren Namensgebung, wie beispielsweise bei der »Tannenberg«. Sie ist mit der »Element« vielleicht die Bekannteste, von Emil Mayer 1933 geschaffen und mitunter heute noch an einer Pension oder Bierwerbung zu entdecken, Aufgrund ihrer starken Vergröberung, der Abstraktion und Reduktion, dem Wegfall der Schnörkel und Rundungen, wurde sie von den Setzern damals als »Schaftstiefelgrotesk« bezeichnet. Die künstlerisch-qualitative Bewertung dieser Schriften bleibt bis heute schwierig. (…) In einer Infografik im selben Buch belegt Koop anhand der Auswertung von Werbeanzeigen für Schriften (Seiten 88/89), dass in zwei exemplarisch ausgewählten »Gebrauchsgrafik«-Heften vor 1933 keine einzige gebrochene Schrift beworben wurde, zwischen 1936 und 1941 sehr stark bis fast ausschließlich gebrochene Schriften beworben wurden und ab 1941 keine einzige mehr. 1
pürsti Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Der springende Punkt in der These die Schaftstiefelgrotesk hätte sich auch vor einem anderen gesellschaftlichen Hintergrund vergleichbar entwickelt oder sogar nachhaltiger (weil ja der ensprechende Makel weggefallen wär) ist jene der Frage nach „Markt“, „Mode“, „Zeitgeist“.Hab es schon erwähnt daß die Bezugnahme dazu einfach zynisch ist. Der Markt ist ein ideologisch bereinigter. Der Ideologie skeptisch gegnüber stehende Geister wurden erst gemobbt, dann verfolgt und ermodet. Darunter ganz viele Kultuschaffende denen die dumpfen Vorstellungen künstlerischen Schaffens der Nazis zuwider waren. Auch in Wirtschaft, Vereins- und Verbandsleben fanden diese Säuberungen statt. In den staatlichen Institutionen ja sowieso. An Entscheiderpositionen spühlte es also zunehmend auch schon vor der eigentlichen Machtübernahme 1933 Nazis, untertützt durch die zunehmende Radikalisierung durch schon ab 1925 marodierende SS und ab 1926 auch schon mordende SA-Einheiten. Der „Markt“ war als sowohl von Anbieter- wie von Nachfragerseite ein manipulierter. Hinzu kam natürlich daß Hitler nach dem gescheiterten Putschversuch 1923 nicht mehr an eine militärische Machtergreifung glaubte sondern eben den legalen Weg über den Parlamentarismus gehen mußte. Den Weg dahin sah er in einer bis dato beispielosen Propaganda. Vor allem nach dem entäuschenden Wahlergebnis 1928 und auf Grund der Tatsache daß er ergiebige Geldquellen erschließem konnte (u. a. Mussolini, Henry Ford; Thyssen …) überzog er das Land mit einer gigantischen Propagandoffensive. Die gebrochenen Schriften ideologisch als „die deutsche Schrift“ proklamierend und allein schon ob der enormen publizistischen Aktivitäten des NSDAP einen ideologisch motivierten Markt schaffend gewannen bis dato tendentiell eher bedeutungslos werdende gebrochen Schriften wieder an Bedeutung. Diese jetzt mit Attributen wie „modern“ und „zeitgemäß“ aufzuladen gebahr dann gebrochene Groteskschriften. Der so geschaffene Markt war ein ideologisch motivierter und die für den Markt zu kreierenden Schriften hatten sich danach zu richten. Mag nicht ausschließen daß es in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld nicht auch Experimente in Richtung gebrochner Groteskschriften gegeben hätt, eine nennenswerte Pobularität hätten sie aber eben gerade wegen eines dafür fehlenden Marktes nicht erreichen können. 2
Phoibos Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Ich glaube, du räumst den Nazis viel mehr Einfluss und Macht vor 1933 ein, als sie tatsächlich hatten. Der Terminus "deutsche Schrift" war zudem bereits damals seit ca. 100 Jahren ein extrem conservativer Propaganda-Terminus in völkischen und nationalistischen Kreisen -- vielleicht beginnend bei der Reformation als Gegenpol zur lateinischen, also katholischen Kirche. An anderen Orten hier im Forum haben viele schon nachgewiesen, dass die gebrochenen Schriften kein deutsches Alleinstellungsmerkmal, wenn auch gerne so propagiert durch "Bewahrer des Deutschtums", waren. Und dass es seit einigen Jahren eine Wiederbelebung von gebrochenen Schriften gibt (Blaktur, Eskapade, Gryffensee und nicht zuletzt die Ode), willst Du auch einem von Nazis bereinigtem Markt in die Schuhe schieben? Ist es nicht eher so, dass die Formen als solche begeistern? Dass abstrahierte Schriften wie die Ode heute und damals die Gotisch-Grotesken einfach ein Versuch sind, gotische Formensprache in einer globalisierten Welt zu etablieren? Mit stark reduzierten Formen für die allgemeine Lesbarkeit?
catfonts Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Ich hab da noch was gefunden: SPD-Wahlplakat von 1948: Und noch was älteres: die eher monarchistische DVP mit Stresemann auf einem Plakat von 1930: 4
Pachulke Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Der springende Punkt in der These die Schaftstiefelgrotesk … vergleichbar entwickelt oder sogar nachhaltiger (weil ja der ensprechende Makel weggefallen wär) ist jene der Frage nach „Markt“, „Mode“, „Zeitgeist“. Hab es schon erwähnt daß die Bezugnahme dazu einfach zynisch ist. Der Markt ist ein ideologisch bereinigter. Alles was Du so wortreich ausführst, widerlegt doch nicht, daß, hätte es keinen Nationalsozialismus gegeben, trotzdem irgendwann ein Modernisierer auf die Idee gekommen wäre, eine Gotische zu »entschmücken« und damit eine typographische Mode zu generieren, so wie eben auch klassizistische Façaden »entstuckt« und damit eine architektonische Mode geschaffen wurde. Interessanterweise wird die Entstuckung, obwohl man bei ihr die selben pränationalsotialistischen Vorläufer, postnationalsozialistischen Nachläufer und eine klare nationalsozialistische Aufladung (»Entschandelung«) findet wie bei der Schlichten Gotisch, heute meines Wissens nirgends als primär nationalsozialistische Angelegenheit angesehen, sondern eben als barbarische Modeerscheinung.
pürsti Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Alles was Du so wortreich ausführst, widerlegt doch nicht, daß, hätte es keinen Nationalsozialismus gegeben, trotzdem irgendwann ein Modernisierer auf die Idee gekommen wäre, eine Gotische zu »entschmücken« Hab ich doch auch geschrieben: „Mag nicht ausschließen daß es in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld nicht auch Experimente in Richtung gebrochner Groteskschriften gegeben hätt, eine nennenswerte Pobularität hätten sie aber eben gerade wegen eines dafür fehlenden Marktes nicht erreichen können.“ Daß es eine „Mode“ in dem Ausmaß geworden wär, daß ein Markt geschaffen würde für eine Reihe von aufwendig zu produzierenden Schriften bezweifle ich eben ganz stark. (da ist bischen Stuck abschlagen schon einfacher, aber der Vergleich richtet sich dann ja eh an eher simple Gemüter). Und der Unterschied im Aufwand, Schriften zu produzieren, beantwortet auch die Frage von Phoibos. Wobei natürlich Schaftstiefelgrotesken als ein Versuch …, gotische Formensprache in einer globalisierten Welt zu etablieren zu bewerten, schon mehr als grotesk ist.
Phoibos Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 schon mehr als grotesk ist. Das ist Deine Meinung, Martin Wenzel ist da wohl anderer Meinung und Ralf auch, um mal zwei zu erwähnen, die wohl nicht dem Druck nationalsozialistischer Ideologie erlegen sind...
Þorsten Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Passiert doch jetzt mit den Letterpress-Schriften und Hipster-Gedönse auch. Nennt sich Modewelle. Sind deswegen jene Schriften Repräsentanten einer gewollten Unterstützung der Weltfinanzkrise und deren Verursacher? Langsam frage ich mich, ob du überhaupt noch sachlich argumentieren willst oder bewusst trollst. In welcher Weise setzten sich Letterpress- und Hipster-Schriften durch Namensgebung, Schriftmuster und Werbetexte in den Dienst der Weltfinanzkrisenverursacher? Inwieweit haben Letztere diese Schriften in besonderem Maße zur Durchsetzung ihrer Ziele benutzt? Marketinggeschwurbel hilft nicht die Motivation der Autoren zu erkennen. Doch, natürlich! Es zeigt – klarer geht es kaum! – dass die Autoren motiviert sind, dem Zielpublikum nach dem Mund zu reden. Sie geben vor, das Publikum beim Erreichen seiner Ziele zu unterstützen. Auf die von Nazi-Parolen nur so triefenden Werbetexte dieser Zeit bezogen heißt das, dass die Texter und ihre Auftraggeber zumindest vorgaben, potentiellen Kunden zu ermöglichen, den »neuen deutschen Geist« (und das »neu« macht aus dem nationalen dann eben das nationalsozialistische – genau so wurde es damals propagiert und verstanden) besonders knackig zu kommunizieren. Nun, ich möchte behaupten, dass nahezu jeder damals, aus den Erfahrungen des [1. Welt-]Krieges und der schweren Zeit danach, der Stellung der eigenen Heimat zwischen ja eindeutig nicht gerade freundschaftlich gesinnten Nachbarstaaten, und dessen, was man damals sah, hörte, erlebte und lesen konnte, praktisch ohne sich als Extremist in irgend einer Form zu sehen ein nationalistisches Weltbild entwickelte. Das ist schlicht falsch. Millionen deutscher Kommunisten hatten ein klar anderes Weltbild. Dazu kam noch in Teilen durchaus humanistisch-kosmopolitisches Bürgertum.
pürsti Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Phoibos, Du hast das geschrieben und damals die Gotisch-Grotesken einfach ein Versuch sind, gotische Formensprache in einer globalisierten Welt zu etablieren Das kann nicht dein ernst sein. Gotisch-Groteske sollten als Ausdruck nationa(istisch)er Identität propagiert werden. Als man sich daran machte, Weltmachtfantasien zu realisieren, wurden gebrochene Schriften verboten, weil sie für globale Kommunikation nicht taugten. Persönlich seh ich natürlich in einer Schrift an sich keine Ideologie. Geht ja auch gar nicht. Also kann man auch ganz unverfangen sich an die Kreation neuer gebrochener Schriften machen. Daß man gut beraten ist bei der Anwenung ob der eher unstrittigen Assoziationen eher erhöhte Aufmerksamkeit walten zu lassen, darüber könnt man wohl auch Einigkeit herstellen. 1
Phoibos Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 In welcher Weise setzten sich Letterpress- und Hipster-Schriften durch Namensgebung, Schriftmuster und Werbetexte in den Dienst der Weltfinanzkrisenverursacher? Inwieweit haben Letztere diese Schriften in besonderem Maße zur Durchsetzung ihrer Ziele benutzt? Mit etwas mehr Muße könnte ich bestimmt einen Zusammenhang konstruieren, doch ging es nur darum, Koinzidenz und Kausalität (hier eben nicht, außer ich wende sehr, sehr viel Phantasie auf) zu zeigen. Doch, natürlich! Es zeigt – klarer geht es kaum! – dass die Autoren motiviert sind, dem Zielpublikum nach dem Mund zu reden. Sie geben vor, dem Publikum beim Erreichen seiner Ziele zu unterstützen. Auf die von Nazi-Parolen nur so triefenden Werbetexte dieser Zeit bezogen heißt das, dass die Texter und ihre Auftraggeber zumindest vorgaben, potentiellen Kunden zu ermöglichen, den »neuen deutschen Geist« (und das »neu« macht aus dem nationalen dann eben das nationalsozialistische – genau so wurde es damals propagiert und verstanden) besonders knackig zu kommunizieren. Das ist doch unstrittig! Aber spiegelt es auch die Denke der Schriftentwerfer wider? Sind diese bei solchen Auftragsarbeiten in jeden Prozess des Marketings eingebunden? Bekamen sie von ihren Arbeitgebern den Auftrag, den Nazis eine Schrift zu schneidern, oder haben sie es auf freien Stücken getan? Oder haben sie gar nicht die Nazis im Hinterkopf gehabt, als sie die Schrift zum ersten Male grob zeichneten? Jenseits der Frage nach der Gedankenwelt der Künstler, die wir wohl nicht klären können, es sei denn, jemand findet Tagebücher oder Notizen bei den Herstellern, beschäftigt mich die Frage, warum wir nicht versuchen können/dürfen/sollen, diese Assoziationen aufzubrechen und die Schriften positiv zu besetzen und der Deutungshoheit der Nazis zu entreißen. Klar darf man diese Schriften auch hässlich finden, doch ich tue das schon mal nicht. Auch ist bei mir die Assoziation "brutale Nazidenke" längst nicht so stark präsent, wie bei einigen hier.
Phoibos Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Das kann nicht dein ernst sein. Warum nicht? Ich dachte da an die Beschriftung der Hindenburg.
Pachulke Geschrieben Oktober 24, 2015 Geschrieben Oktober 24, 2015 Hab ich doch auch geschrieben: „Mag nicht ausschließen daß es in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld nicht auch Experimente in Richtung gebrochner Groteskschriften gegeben hätt, eine nennenswerte Pobularität hätten sie aber eben gerade wegen eines dafür fehlenden Marktes nicht erreichen können.“ Daß es eine „Mode“ in dem Ausmaß geworden wär, daß ein Markt geschaffen würde für eine Reihe von aufwendig zu produzierenden Schriften bezweifle ich eben ganz stark. Ja, gut. Du persönlich bezweifelst das. Aber was sagt das zur Sache aus? Daß es eine „Mode“ in dem Ausmaß geworden wär, daß ein Markt geschaffen würde für eine Reihe von aufwendig zu produzierenden Schriften bezweifle ich eben ganz stark. (da ist bischen Stuck abschlagen schon einfacher, aber der Vergleich richtet sich dann ja eh an eher simple Gemüter). Die Parallelen hatte ich ja aufgezeigt. Was hier letztlich mehr Staub aufgewirbelt und mehr Einfluß auf die deutsche Kulturgeschichte hatte, darüber ließe sich streiten. Hier dürfte die allgemeine Wahrnehmung von der typographisch-fachspezifischen abweichen. Millionen deutscher Kommunisten hatten ein klar anderes Weltbild. Trotzdem haben sie die »Schaftstiefelgrotesk« benutzt.
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