tidus89 Geschrieben Mai 6, 2023 Geschrieben Mai 6, 2023 Nachdem wir bereits einen Thread zu Schriftgestaltung durch AI und einen zu Grafikdesign durch AI haben, möchte ich eine Diskussion zum Anwendungsbereich Mikrotypografie eröffnen. Ich sehe hier großes Potential, da Mikrotypografie erstens regelhaft ist und zweitens vorhersehbar. Und zwar in größerem Maße als Grafikdesign oder Schriftgestaltung. Das bedeutet, Mikrotypografie sollte sich besser automatisieren lassen. Und das findet bereits statt: Mittels CSS-Code im Web oder mittels GREP-Stilen in Indesign lassen sich einfache oder komplexe Regeln erstellen, die dann automatisiert auf einen gegebenen Text angewendet werden. Die Regeln werden dabei noch vom Anwender festgelegt. Was also könnte Machine Learning oder AI hier für einen Mehrwert bieten? Ich schmeiße einfach mal ein paar Ideen in die Runde: Besserer Blocksatz: Die Vorstellung, dass variable Fonts mit einer Breitenachse vorteilhaft für einen guten Blocksatz sein können, ist nicht neu. Der Gedanke ist, dass die Blocksatz-Engine neben Wort- und Zeichenabstand sowie Glyphenskalierung ein weiteres Tool zum Austreiben und Einbringen bekommt. Bei der Breiten-Skalierung über eine variable Breitenachse würde sich die Strichstärke und damit Farbe nicht verändern, was gegenüber der Glyphenskalierung ein Vorteil wäre. Machine Learning könnte einen Schritt weiter gehen und solche Skalierungen nicht mehr nur auf eine ganze Zeile oder einen Paragraphen anwenden, sondern bei Bedarf auf einzelne Buchstaben. Ein kleiner Schritt zurück zu Gutenbergs Varianten und Ligaturen. Besseres Kerning: Machine Learning könnte mehr Möglichkeiten für das Kerning bieten. Statt global metrisch oder optisch zu kernen, wäre eine Einstellung denkbar, die metrisches Kerning anwendet, aber es noch einmal überprüft. An allen Stellen im Text, wo z.B. Buchstabenkollisionen erkannt werden, würde entweder optisch gekernt, oder mit Buchstabenvarianten gearbeitet. Gibt es diese Varianten nicht im Font, könnten sie auch ad hoc erstellt werden: Es gibt kein f mit kurzem Bogen? Hier ist eines, abgeleitet vom bestehenden f des Fonts. Ligaturen: Mit Hilfe von Machine Learning und seinem grammatischen Verständnis sollte es möglich werden, im Deutschen Ligaturen automatisiert nur an den richtigen Stellen zu setzen, also innerhalb eines Morphems, nicht aber zwischen Wortfugen. Angleichen des Grauwerts: Machine Learning sollte in der Lage sein, unterschiedliche Schriftschnitte oder Fonts automatisch in ihrem Grauwert anzugleichen, sofern diese variabel sind und eine Strichstärkenachse besitzen. Das gleiche gilt auch für den selben Schriftschnitt in unterschiedlichen Größen, die AI könnte den Grauwert automatisch angleichen. Auch Angleichungen in Laufweite, x-Höhe und anderen Kategorien wären mit entsprechenden Achsen in variablen Fonts möglich. Sinngerechte Trennung im Flattersatz: Mit ihrem grammatischen Verständnis sollte das kein Problem für eine AI sein. Und wenn ihr das Recht eingeräumt wird, bei Bedarf Stellen im Text zu paraphrasieren, um einem besseren Textlauf zu ermöglichen, wird sie auch das umsetzen können. Das waren nur ein paar Ideen. Ich bin sicher, da steckt noch gewaltig viel mehr Potential drin. Insbesondere im Bereich der flexiblen (Web)-Typografie, aber auch in der klassischen Typografie für Print. Dabei wird es nicht nur darum gehen, heute zeitraubende Tätigkeiten zu automatisieren. Sondern auch, gute Typografie mühelos für nicht versierte Nutzer zu ermöglichen. Es geht nicht darum, Typografen Kontrolle zu entziehen, sondern ihnen mehr Flexibilität zu bieten durch neue Mechanismen, deren Nutzung sie selber bestimmen und anpassen können. 4 2
Sebastian Nagel Geschrieben Mai 6, 2023 Geschrieben Mai 6, 2023 (bearbeitet) Als Werkzeugkasten ... klar, gerne, immer! Wobei die Vorschläge jetzt fast alle so klingen, als wären das gute Tools mit denen ein sehender, verstehender und erfahrender Textgestalter schnell noch besser Text gestalten könnte – da würden fast überall ein paar Eingabefelder oder andere Interface-Elemente reichen über die ich Einfluss nehmen kann. Richtig "AI" dahinter bräuchte das nicht (den f-Bogen mal ausgenommen), nur etwas bessere Funktionen die mal die frühen 2000er als "eh gut genug" hinter sich lassen und eben Dinge wie variable Breiten auch wirklich verinnerlichen statt immer nur aufpfropfen. Es bleibt nur fraglich, ob Adobe das Fass "Indesign" jemals nochmal aufmachen wird, oder es weiterhin als "fertig genug" betrachtet oder nach den Umstrukturierungen einfach den Quellcode von signifikanten Teilen nicht mehr findet oder versteht. Und ob die Browserhersteller je so viel Entwicklungszeit und Qualitätsprüfungsaufwand einerseits und Rechenzeit beim Rendern andererseits investieren werden, nur um Text schöner zu machen, während der Rest der Gestaltung weiterhin so vielen weichen Faktoren (Display-Größen, PPI-Werten, Farbkalibrierung, Umgebungslicht, User/System-CSS, ...) ausgesetzt ist, dass eine akkurate Gestaltung wie in einem fixen Format und fixierbaren Formen (wie in "Print" oder PDF) ohnehin nie möglich sein wird. Als AI-Automatismus ... ich glaub ja gerne dran, dass das besser wird, aber so wie AI derzeit funktioniert, also statistisch, ohne zu wissen was sie tut, ohne visuellen Feedback-Loop und Sinnerfassung auf Inhalts- und Zweckebene, weiß ich nicht ob das in absehbarer Zeit voll-automatisch brauchare, reproduzierbare, weiterverarbeitbare Ergebnisse liefern könnte, die nicht mehr Aufwand verursachen als sie Aufwand einsparen. Da ist "ein Bild so ungefähr malen" oder "einen Text formulieren" vielleicht sogar die einfachere Aufgabe, da mehr Interpretationsspielraum da ist und eine gewisse Schwammigkeit vom Betrachter am Ende auch akzeptiert wird. bearbeitet Mai 6, 2023 von Sebastian Nagel 1
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